Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Händen und das tolle Flügelgetöse ließen keinen Zweifel daran, worum es in dem Lied ging: um unerträgliches Leid.
Ich trage Unerträgliches
Und brechen will mir das Herz im Leibe!
Und in dem leisen Stakkatomittelteil so viel Bedauern, so viel Trauer um verlorenes Glück, dass Großvaters Stimme beinahe versagte.
Du wolltest glücklich sein, unendlich glücklich!
Oder unendlich elend.
Hat er vielleicht damals schon seine Scheidung bereut?, schoss es mir jetzt durch den Kopf. Hatte er sich nach Pij gesehnt, so wie sie sich nach ihm?
Das frühere Ehepaar hat sich nie wiedergesehen. Pij ist nie auf Vosseveld gewesen, auch nicht nach Großvaters Tod, nicht einmal als Oma Annetje schon längst ausgezogen war.
Zu seiner Einäscherung waren sie allerdings beide gekommen. Es hieß, sie und Oma Annetje seien sich über Großvaters Sarg in die Arme gefallen. Uns hatte man leider für zu jung befunden, um bei dem Schauspiel anwesend zu sein.
Pij überlebte Großvater um dreizehn Jahre. Ihr eigenes Ende, im Jahr 1966, war nicht ohne Tragik. Nach einem Sturz, bei dem sie sich die Hüfte brach, hatte sie vier Tage (und Nächte!) lang in ihrem Flur gelegen, bis sie von einer Nachbarin gefunden wurde. Nicht von Pim, der sein Heil inzwischen woanders gesucht hatte. Im Krankenhaus wurde neben dem Hüftbruch auch noch eine Gehirnembolie festgestellt. Die Frage war, wie lange sie die schon gehabt hatte.
»Plemplem! Siehst du«, sagte mein Vater nicht ohne Triumph in der Stimme.
Pij lebte danach noch eine Woche. Ihr Herz wollte einfach nicht Schluss machen. Man sah und hörte es schlagen, wie ein besessenes Tier, das heraus wollte, ein durchgedrehter Motor, der sich nicht abstellen ließ. Als es endlich vorbei war und Tante Cora ihr die Augenlider zudrückte, wollte sich das linke Auge nicht schließen.
Das Begräbnis war eine kühle Angelegenheit – was für ein Gegensatz zu dem von Oma Annetje. Es kamen wenige Leute und niemand hielt eine Ansprache. Als ich an den offenen Sarg trat, war das linke Auge immer noch nicht geschlossen. Es schaute drein, als würde sie, der zu Lebzeiten niemand geglaubt hatte, jetzt selber an nichts und niemand mehr glauben.Nicht an den Tod. Nicht an unsere Trauerbezeugung, die sich in der Tat schnell in eine feuchtfröhliche Angelegenheit auflöste. Mein Vater war beinahe ausgelassen. Doch nicht lange danach versank er in eine Depression, die Monate, vielleicht sogar Jahre anhielt. ›Pappi geht der Tod seiner Mutter viel mehr ans Herz, als wir uns das jemals hatten vorstellen können‹, schrieb ich in jenen Tagen in mein Tagebuch.
Das Haus am Overtoom auszuräumen war für sich genommen schon deprimierend genug. Die Decke war eingestürzt und mit Matten abgestützt, der Garten sah katastrophal aus. Hausrat, Krempel und Papierkram, Lepel warf alles haufenweise in einen Container. Mit sichtlicher Befriedigung schmiss er die gelben Bändchen hinterher: »Da gehst du hin, Frau Bovary!«
Alles verschwand damals. Aber einmal behielt Lepel für einen Moment etwas in den Händen. Ich sah ihn von hinten. Das Bild dieses gespannten Lesens ist mir immer in Erinnerung geblieben.
Schließlich zerriss er es, was immer es war, und warf es zu dem übrigen Müll.
Nach dem Tod seiner Mutter hat sich bei Lepel nicht nur eine Depression eingestellt, sondern er ging auch plötzlich zu seiner Stiefmutter auf Distanz. Und das zu einem Zeitpunkt, als sich die Beziehungen durch Oma Annetjes Fortgang aus Vosseveld gerade wieder einigermaßen normalisiert hatten. Er muss damals etwas erfahren haben, was ihn veranlasste, seine Meinung über sie gründlich zu ändern.
Ich rief ihn an, um ein Treffen zu vereinbaren, aber das stieß auf Hindernisse, wie stets in letzter Zeit: Er hatte Grippe, musste zum Arzt, der Hund war krank, der Gärtner kam oder dann eben die Putzfrau.
Ich würde mich mit dem vorhandenen Material behelfenmüssen. Was für eine Frau war Oma Overtoom eigentlich gewesen? Wer weiß, vielleicht warf eine Charakterskizze von ihr etwas Licht auf ihren und Großvaters umstrittenen Partnerwechsel.
Die Damen haben am selben Tag Geburtstag. Pij, geboren 1889, ist genau ein Jahr jünger als Annetje. Aber damit hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Die Gegensätze springen mehr ins Auge.
Während die Beets’schen Mädchen eine ganze Reihe Brüder haben, denen sie als Empfänger elterlicher Zukunftsinvestitionen den Vortritt lassen müssen, haben die Braakensiek’schen
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