Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Schwestern keine männliche Konkurrenz. Für den allseits geachteten Johan Braakensiek und seine ehrgeizige Oberin ist selbst das Beste für ihre Töchter noch nicht gut genug. Pij, mit ihrer schönen Stimme, geht aufs Konservatorium; Griet, mit ihrer zeichnerischen Begabung, auf die Akademie, während Neeltje, die sich am liebsten mit Büchern umgibt, auf die Universität geschickt wird. Auch an Unterhaltung fehlt es den Mädchen nicht. Meine Großnichte Ida, die Tochter von Pijs Schwester Griet, weiß noch viel davon zu erzählen. Diepenbrock, Breitner und Frederik van Eden; die Malerin Lizzy Ansingh, der Cellist Gérard Hekking, die Pianistin Dora de Haas und viele andere Berühmtheiten sind gern gesehene Gäste im sonntäglichen Salon ihrer Mutter. Die Oberin ist eine vorzügliche Gastgeberin. Sie kann wunderbar kochen, ist aber auch eine meisterhafte Schneiderin. Ihre eigenen Kleider, und die ihrer Töchter, fertigt sie nach der Vorlage echter Couture-Modelle.
Als Annetje ihre Schwesternuniformen auf ihrer selbst verdienten Nähmaschine näht, aus Stoff, den sie von geborgtem Geld hat kaufen müssen, absolviert Pij, in die letzte Mode gehüllt, ihr Entree am Konservatorium im Hauptfach Gesang.
»Sie war schwierig, schon als Mädchen«, erzählt Nichte Ida. »Sogar schwer zu handhaben, wie es scheint. Und ständig Liebschaften. Mit achtzehn hatte sie ihre erste Abtreibung. Und auf dem Konservatorium hatte sie bereits diverse Dozenten verschlissen, bevor sie sich auf Christiaan Mansborg stürzte. Sie hatte eine schöne Stimme, das ja – aber wenn du mich fragst, war sie vollkommen unmusikalisch. Ich hab sie noch singen hören …« Ida verdrehte die Augen. »Frag mich nicht, wie sie ihre Abschlussprüfung geschafft hat. Die Beziehung lief zu dem Zeitpunkt bereits ein paar Jahre. Christiaan hat sie durchgezogen. Ganz schön gefährlich. So macht man sich erpressbar.«
Als Annetje ihre keusche Schwesternexistenz in der Heilkunde- und Frauenklinik in Utrecht führt, singt Pij unter Christiaans Leitung
Aller Seelen
von Richard Strauss und
Liebesfeuer
von Felix Weingartner. Als Annetje 1914 mit ihrer Wochenpflegerinnenausbildung im Wilhelmina-Hospital beginnt, studiert die sinnliche Pij die
Zigeunerlieder
von Brahms, interpretiert
Viens! mon bien-aimé
von Chaminade und singt auf ihrer Abschlussprüfung eine Arie aus
Samson und Dalila
von Saint-Saëns. Christaan Mansborg, ihr eigener Samson, ist zu dem Zeitpunkt noch nicht wirksam gestutzt: Er ist noch verheiratet. Sein jüngstes Kind ist gerade ein Jahr alt.
Aber das wird gelöst. Während Annetje im Sommer 1915 ihren langen ›Krankenurlaub‹ aussitzt, mit der Aussicht, ihr uneheliches Kind an ihre Schwester abgeben zu müssen, muss Pij lediglich eine Schwangerschaft vortäuschen, um ihren verheirateten Geliebten von seiner Frau loszueisen.
»Meine Großmutter sah in dem fröhlichen Sänger schon eine geeignete Partie für ihre Tochter«, erzählt Ida. »Als sie ihre Abschlussprüfung bestanden hatte und er immer noch keine Anstalten machte, sich scheiden zu lassen, hatten sie Angst, dass er aus Pijs Leben verschwinden könnte. Da hatGroßmutter ihn einbestellt und gesagt: Sie haben meine Tochter geschwängert. Von wegen! Natürlich war nichts davon wahr …, aber er ist in die Falle gegangen. Danach sind sie bei den Alten am Overtoom eingezogen.«
Ida rückte mit einem Gruppenporträt aus dem Jahr 1915 heraus, einer Art ›lebendes Bild‹. Die stämmige Oberin steht im vollen Ornat neben ihrem schmalen Ehemann Braakensiek. Die luftig gekleideten Töchter sitzen dekorativ um den frischgebackenen Schwager-Ehemann Mansborg geschart, der sich, zur selbst gespielten Laute singend, die kollektive Bewunderung wohl gefallen lässt.
In den Jahren 1916 – 1917, als Annetje in ihrer nüchternen Schürze anderer Frauen Babys herumschleppt, posiert Pij stark geschminkt in eleganten Kleidern mit Spitzencapes, zierlichen Schärpen und reich geschmückten Hüten für ihren berühmten Ehemann, der sich als ein leidenschaftlicher Amateurfotograf entpuppt.
1919 – in dem Jahr, in dem Annetje dem Vater ihres verlorenen Geliebten nachgibt – hält Pij ihren gesetzlichen Erstling, das Töchterchen Cora, im Arm; und 1921, als Annetje zusammen mit H. C. Oud zum Overtoom umzog, posiert ihre Nachbarin schon mit Nummer zwei, ihrem Söhnchen Lepel, meinem Vater, der freilich, Ida zufolge, »ein Missgeschick« war.
H. C. Oud, treuer Leser von
De Groene
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