Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Amsterdammer
, hat den populären Karikaturisten Braakensiek schon in seinem Cape und Schlapphut vor seinem Haus entlangstolzieren sehen. Die Herren trennt nur ein Altersunterscheid von vier Jahren. Sie freunden sich an. Schon bald kommt Braakensiek einmal die Woche vorbei, zu einer Partie Carambolage an Ouds prächtigem Billardtisch. Annetje ist dann auch mit dabei, und sie steht ihren Mann, den Queue elegant hinterm Rücken. Als Braakensiek vom jüngsten Familiennachwuchserzählt, den beengten Verhältnissen für die junge Familie, die immer noch bei den Eltern wohnt, wird der alte Oud, Immobilien- und Wertpapiermakler, seinen Freund vielleicht auf das freiwerdende Obergeschoss im Haus nebenan aufmerksam gemacht haben; vielleicht hatte er das Grundstück sogar in seinem eigenen Portefeuille. Anfang 1922 zieht die Familie Mansborg in das Obergeschoss neben Oud und Annetje, und in diesem Jahr muss es auch mit dem Netz von Freundschaft, Verrat und Intrigen seinen Anfang genommen haben, in das beide Familien und ihre Nachkommen bis zum heutigen Tage verstrickt bleiben sollten.
Annetje sieht ihre neue Nachbarin täglich mit dem Kinderwagen vorbeigehen, unterwegs zum Vondelpark, neben sich ihr ausgelassenes Töchterchen. Sollte Pij Annetje schon einmal gefragt haben, ob sie den kleinen Lepel für ein Stündchen bei ihr unterbringen könne, dann hat diese sich sicher nicht lange bitten lassen.
Christiaan Mansborg kann sich vorläufig der gegenseitigen Geselligkeit noch entziehen; er hat ja seine Arbeit im Konservatorium. Doch seine imposante Gestalt von beinahe zwei Meter Länge, die Künstlermähne, die runde Brille und der schwungvolle Hut sind im Overtoom’schen Straßenbild kaum zu übersehen. Natürlich hat Annetje den neuen Nachbarn morgens zur Tramhaltestelle schreiten sehen, auf dem Weg zum Konservatorium; ihn zum Concertgebouw durch den Vondelpark wandern sehen. Sie hat Besprechungen seiner Konzerte gelesen, Interviews in
Eigen Haard
und
De Nederlandsche Dameskroniek.
Mansborg ist ein begehrter Solist, auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er singt Hauptpartien in Opern von Wagner, Röntgen und Elgar, er singt
Boris Godunow
von Mussorgski und seine Glanzrolle: den komischen
Barbier von Bagdad
vonPeter Cornelius. Er gibt Liederabende im Kleinen Saal, singt in Oratorien im ganzen Land und ist vor allem renommiert wegen seines Jesus in der
Matthäus-Passion
. Nebenher gibt er in diesen Jahren zusammen mit Pij noch regelmäßig Duettabende in der Provinz, wo sie Lob zu ernten wissen. ›Frau Mansborgs strahlender, klarer Sopran mischte sich auf wunderbare Weise mit dem sonoren Klang ihres berühmten Gatten.‹
Schon bald geht auch Mansborg beim alten Oud ein und aus – und schenkt ihm, im Tausch für seine Gastfreundschaft, ein kleines Gemälde aus eigener Werkstatt.
Und vice versa. Ein einzigartiges Foto von dem gemeinsam musizierenden Ehepaar Mansborg – aufgenommen irgendwann Mitte der zwanziger Jahre, bei einem Hauskonzert oder einer Generalprobe – tauchte unerwartet zwischen Oma Annetjes Papieren auf. Sie wird also bei dieser Gelegenheit anwesend gewesen sein.
Auf dem bewussten Schnappschuss sitzt Christiaan Mansborg an seinem Flügel, ein schwungvoller Fünfziger in einem weißen Anzug mit weißen Schuhen. Er blickt geradeaus in die Linse, durch eine kleine Brille, deren Glas heftig funkelt. Pij, Mitte dreißig, steht hinter ihm, eine Hand auf seiner Schulter, und schaut stolz auf ihn hinab, mit besitzergreifendem, aber auch etwas angstvollem Blick; als würde sie die Beute, die sie früher einmal so raffiniert gefangen hat, jetzt kaum noch zu berühren wagen. Ihr Haar ist hochgesteckt, ihre Augen sind stark geschminkt, die Augenbrauen dick und schwarz, die vollen Lippen sorgfältig nachgezogen. Ihre Figur ist üppig, aber aus den Puffärmeln ihres bestickten Gewandes kommen verhältnismäßig schlanke Arme zum Vorschein. Sie trägt ein Spitzencape, weiße Strümpfe und schwarze Pumps mit Knöchelriemen. Vielleicht waren sie da als
Schubert und Gretchen am Spinnrad
aufgetreten oder als
Schöne Müllerin
.
Ihr Geliebter Pim hat da schon längst sein Entree in Pijs Ehe gemacht. Er ist einer der vielen Schüler, die Christiaan zu Hause empfängt. Er bleibt – so Ida – nach dem Unterricht oft noch eine Weile, um mit Pij in der Küche zu plaudern; ein Gespräch, das sich allmählich zum Diwan im Wohnzimmer verlegt haben dürfte. Wo der fünfjährige Lepel das Paar zu seiner bleibenden Bestürzung
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