Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
einmal
in flagrante delictu
erwischt hat.
Einige Zeit nach dieser Episode ist es mit den gemeinsamen Auftritten von Herrn und Frau Mansborg vorbei. Die jubelnden Besprechungen verstummen. Hinfort sucht sich Christiaan andere junge, schöne Sängerinnen aus, um auf Konzertreise zu gehen.
Irgendwann in dieser Periode verliert Pij ihre Stimme. Vielleicht weil sie jetzt Gewissensbisse wegen ihrer Untreue bekommt, die sie wohl doch nicht so kalt gelassen hat, wie in der Familie allgemein angenommen wird? Hat Christiaan etwas mit einer dieser schönen, jungen und zweifellos begabteren Sängerinnen angefangen? Wie dem auch sei, das Blatt scheint sich jetzt gegen Pij zu wenden. Sie findet ihren Weg zu der herzlichen, mitfühlenden Nachbarin.
Pij hat alles, was Annetje selbst entbehren muss: ein eigenes Haus, einen rechtmäßigen Ehemann, Kinder, eine Karriere und, wie es jetzt scheint, auch noch einen Geliebten. Und eben dieser Pij droht jetzt mit eigener Münze heimgezahlt zu werden. Wahrscheinlich gönnt Annetje ihr das Unglück.
Es bleibt vorläufig bei einem Vorgeschmack. Die Situation im Hause Mansborg entspannt sich zunächst wieder. Auf Urlaubsfotos aus den späten zwanziger, frühen dreißiger Jahren steht Christiaan friedlich hinter seiner Staffelei in lauschigen Wäldern, die hohe Stirn voll mit Schubert und Hugo Wolf, während Pij und Pim sich unter seinen Augen vergnügen und herumturteln. Es werden Rundtänze vor einer Taverneveranstaltet, Pim und Christiaan im Vordergrund, lächelnd, mit schäumenden Bierkrügen anstoßend. Es macht den Eindruck eines beherrschbaren Status quo.
Und die ganze Zeit kann Annetje ihren berühmten Nachbarn von ihren Fenstern aus kommen und gehen sehen; auch die untreue Pij, und den Hausfreund-Geliebten, und den tief empörten jungen Sohn Lepel. Sie sieht alles. Sie sagt nichts. Sie wartet ab.
Ich zögerte bei dem, was jetzt kommen musste.
Worauf wartete Oma Annetje? Hielt sie sich zurück, um in der Folge ihren Charme auf sorgfältig vorbereitete Weise auszuspielen, wenn die Zeit reif war?
Zwischen Oma Annetjes wirren letzten Mitteilungen fand ich diese: ›Allerliebste Nachbarin, kannst du mir verzeihen?‹
Die Frage war nicht, ob gesündigt worden war. Die Frage war: Wann und wie?
Wieder war ich in einer Sackgasse gelandet. So leicht es mir gefallen war, mir Annetjes heimliche Liebe zu Piet Oud auszumalen – so schwer konnte ich mir jetzt eine plötzliche Leidenschaft oder auch nur eine allmählich gewachsene Intimität zwischen Annetje und meinem Großvater Christiaan Mansborg vorstellen. Annetje hatte in diesen Jahren ja alle Hände voll zu tun mit dem immerzu älter und kränker werdenden Oud. Und falls sie ihre Hoffnung noch auf ein eigenes spätes Glück gerichtet hatte, warum hat sie sich dann wieder ausgerechnet auf einen älteren, verheirateten Mann eingeschossen, der zudem noch mit einer ›Herzensfreundin‹ verheiratet war?
Ich sah es nicht vor mir. Doch standen die Tatsachen fest. Mansborg
war
im August 1939 nach Zandvoort umgezogen. Annetje
war
wenige Tage später, im September, unmittelbar nach Ouds Tod, bei ihm eingezogen. Und zwei Wochen nach Mansborgs Scheidung von Pij waren er und Annetje ein Ehepaar.Es musste also vorher etwas passiert sein. Andererseits hatte Pij ihrer Herzensfreundin Annetje noch Ende September geschrieben: ›Glaube mir, ich wäre nicht freiwillig gegangen. Ich habe die Entscheidung voll und ganz Christiaan überlassen.‹ Wie konnte sie denn da immer noch nichts von der bevorstehenden Eheschließung vermuten, ganz zu schweigen von einem bereits bestehenden Verhältnis zwischen Annetje und ihrem Ehemann?
Dass mein Vater Lepel mir bereitwillig Auskunft über dieses Thema geben würde, brauchte ich nicht zu erwarten. Er war in dieser Angelegenheit völlig verstockt. Ich beschloss daher, meine Tante Cora in Belgien anzurufen.
»Warum haben sich Oma Overtoom und Großvater eigentlich so plötzlich scheiden lassen?«, begann ich nach ein paar einleitenden Phrasen. »Ihr Geliebter Pim wurde doch so viele Jahre geduldet.«
»Ach, Kind. Die Ehe war ganz bestimmt kein Vergnügen mehr. Und schließlich ist
sie
ja weggegangen. Dein Opa war nicht so tatkräftig. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er, glaube ich, alles so belassen, wie es war.«
»Aber die Scheidung war nicht Pijs Idee«, wandte ich ein. »Sie hat Oma Annetje selber geschrieben, dass sie nie freiwillig weggegangen wäre. Und gleich nach der Scheidung haben
Weitere Kostenlose Bücher