Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Großvater und Oma Annetje geheiratet …«
Tante Cora fegte all diese Einwände weg. »Ach was, Kind. Das war
Jahre
später.«
»Jahre später? Einen Monat später. Im Dezember 1939. Wo sie doch seit beinahe zwanzig Jahren Nachbarinnen, ja sogar Freundinnen waren.«
»Wieso interessierst du dich denn auf einmal so für Oma?«, fragte Tante Cora argwöhnisch. Und in einem Ton, der deutlich abgekühlt war: »Dieses Herumbohren in der Vergangenheit ist nicht gesund!«
Ich ahnte schon, was da los war. Mein Vater Lepel hatteseiner Schwester bei seinen wöchentlichen Telefonaten sicher von meinem jüngsten Interesse für Oma Annetje berichtet. Anscheinend fand das auch bei Tante Cora wenig Zustimmung – oder sie war von Lepel instruiert worden.
Das Gespräch stockte: Tante Cora musste dringend auflegen.
Ich war gekränkt. Ich hing an dieser Tante.
Es muss irgendwas los gewesen sein mit der Scheidung, dachte ich. Hatte Annetje die Oberin vom Overtoom für sich eingespannt? Eine Abmachung, ein Komplott? Zwischen Oud und Großvater und möglicherweise auch Lepel, obwohl er damals erst achtzehn war; vielleicht sogar mit Tante Coras Wissen?
Und dann war da noch die andere, nicht weniger rätselhafte Geschichte von den zehntausend Gulden, die die Oberin dem alten Oud für Annetje abgeschwatzt haben sollte. Hatte sie nicht davon Vosseveld kaufen können?
So hatte es mir mein Vater erzählt, aber inzwischen neigte ich dazu, auch diese Geschichte mit einem Fragezeichen zu versehen. Oud hatte in jenem letzten Nikolausgedicht ja von Versuchen, ›für die liebe Ann zu sorgen‹ gesprochen. Trotz Perioden von Entfremdung hatte er sich bis zuletzt um ihr Schicksal gekümmert. Schließlich war sie ja nicht nur seine ›Hausgefährtin‹, sondern immer auch die Mutter seines jüngsten Enkels gewesen.
Ich beschloss, noch einmal Tante Tini in Arnheim zu Rate zu ziehen. Die war 1939 schon längst mit Onkel Rob Vlek verlobt und kannte Oma Annetje damals auch schon.
Zandvoort und weiter
Zu meiner Verblüffung bestätigte Tante Tini Lepels Geschichte, und zwar in genau demselben Wortlaut.
»Tante Ann hat mir selber erzählt, wie sich das zugetragen hat. Sie drohte nach Ouds Tod auf der Straße zu landen. Das war Oma Braakensiek zu Ohren gekommen – der Mutter deiner Großmutter Pij, die sehr sozial eingestellt war. Sie ist damals auf ihren Krücken zu Ouds Haus gehumpelt, er lag da schon im Sterben, und hat ihn gefragt: ›Oud, hast du was für Ann getan?‹ Das war aber wohl nicht der Fall. Sie ist eine halbe Stunde lang bei ihm in seinem Schlafzimmer geblieben. Als sie nach dieser halben Stunde wieder rauskam, sagte sie: ›So, Ann. Alles geregelt.‹«
Die Geschichte schien also zu stimmen.
»Schon merkwürdig, dass Oud nicht selbst auf die Idee gekommen ist«, grübelte ich laut vor mich hin. »Er hat Oma Annetje, aber auch Tante Vera und ihrer Familie« – sagte ich mit Nachdruck, aber der Wink entging Tante Tini – »doch immer geholfen, wo er konnte. Hätte er Oma Annetje wirklich nach all den Jahren ohne einen Cent zurückgelassen?«
Ich hatte Ouds letztes Nikolausgedicht für Tante Tini mitgenommen. Ich zitierte: ›Nacht wie Tag sind Deine guten Taten in meinen Gedanken … Jedenfalls sind dies Versuche, um für die liebe Ann zu sorgen.‹ Dann muss er doch irgendwas Substanzielles für sie getan haben«, setzte ich hinzu. »Unddazu hatte er auch allen Grund. Oma Annetje hat ihn schließlich das letzte Jahr die ganze Zeit pflegen müssen.«
Das ließ Tante Tini nun doch nachdenklich werden.
»In der Tat, sie hat ihn bis zu seinem Tod gepflegt. Sie musste sogar seine Geschäfte für ihn wahrnehmen, und das, obwohl sie davon nicht die geringste Ahnung hatte. Jeden Morgen telefonierte sie ewig lange mit einem Versicherungsunternehmen. Sie hatte ganz schön viel um die Ohren.«
»Mit einem Versicherungsunternehmen?«
»Jetzt fällt’s mir wieder ein. Sie betreute ein Versicherungsportefeuille für ihn, und weil sie sich allmählich mit der Materie vertraut gemacht hatte, durfte sie es behalten. Das würde ihr noch eine Kleinigkeit einbringen. Aber es war nicht genug, glaube ich – und Ouds Söhne wollten nicht, dass sie etwas erbte.«
»Aber wenn die Söhne nicht wollten, dass sie erbt, wie ist sie dann an die zehntausend Gulden gekommen?«
Das konnte Tante Tini sich auch nicht erklären. »So hat’s Tante Ann mir erzählt«, sagte sie.
Da ich nun gerade in Arnheim war (und wieder nicht
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