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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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…«
    Ich nahm ihr den Ordner schnell aus der Hand und sagte: »Ich komm schon zurecht, Flor. Ich bringe alles wieder zurück. Versprochen.«
     
    So saß ich dann etwas später mit dem Ordner in meinem Zug zurück nach Amsterdam.
    Eine Abteilung ›Mutter‹ enthielt Briefe und Dokumente, die Großvaters erste Scheidung betrafen. Ich blätterte sie flüchtig durch. Dora scheint mit aller Macht gehofft zu haben, dass es mit Großvater doch wieder gut werden würde; und auf einem mit Bleistift geschriebenen kurzen Brief ließ sie Familienmitglieder, die mir unbekannt waren, grüßen. ›So kann ich nicht mehr leben‹, stand da. Kein Datum. Die arme Person wird doch nicht etwa Selbstmord begangen haben?
    Ich blätterte weiter. Es gab Vorsatzblätter mit ›Briefe Vater‹, ›Ann/Vosseveld‹ und ›Finanzen‹. Alles war ordentlich nach Datum geordnet. Unter ›Vater‹ fand ich einen langen Brief von Christaan Mansborg, datiert vom 16.   Oktober 1939 – sechs Wochen nach dem Tod des alten Oud.
     
    Lieber Henk, wenn auch die Stimmung vielleicht nicht gerade fröhlich sein dürfte, verlier nicht die Zuversicht. Wenn der Krieg vorbei ist, kehrt vielleicht auch wieder die Ruhe und ein Lichtstrahl zurück, nach diesen dunklen Zeiten.
    Für uns bricht nun die Zeit an, da Ann Beets zu uns kommt, und in dieser Erwartung haben wir hart geschuftet und gearbeitetund alle Haushaltsdinge selbst erledigt. Morgen früh kommt der letzte Umzug, und da wird unser Haus zum erneuten, aber dann auch zum letzten Male zum Chaos. Ab übermorgen ist jede Ordnung dann eine endgültige, und das gibt mir ein wunderbares Gefühl. Auch die geistige Unordnung im Familienleben hat dann ein Ende. Wenn Du sie erst einmal näher kennengelernt hast, wirst Du selbst feststellen, wie lieb sie ist und was für eine gesellige Atmosphäre sie zu schaffen versteht, und damit soll mein liebster Wunsch in Erfüllung gehen, diese Frau nicht als ›Haushälterin‹ sondern als Gattin mein Eigen nennen zu können. Die Scheidung wird in ein paar Wochen ausgesprochen sein, und dann steht uns nichts mehr im Wege, diesen Plan auszuführen.
    Kommenden Sonnabend werde ich Anns Familie kennenlernen. Dann hoffen wir, dass sie bei uns einzieht. Diese Neuigkeit wird Dich gewiss veranlassen, die Hände vor Erstaunen zusammenzuschlagen. Doch ist dies alles zum Guten, was sollen zwei Männer ohne eine Frau und dann auch noch ohne so eine. Du weißt vielleicht, dass Ann auch einen Billardtisch mitbringt, der dem Herrn Oud gehört hat?
    Bedauerlicherweise geht es mit Lepel noch nicht so gut. Eine Erkältung folgt der anderen, und das ist für sein Lernen ein großes Handicap. Die weibliche Sorge von Ann, die früher Krankenschwester war, wird ihm da sicherlich guttun. Darüber hinaus ist Ann in der schwierigen Zeit, die er wegen der Familienumstände durchgemacht hat, stets seine Beichtmutter gewesen. Ich kann Dir nicht sagen, wie glücklich und wie erleichtert wir uns fühlen.
    Pij ist leider nicht glücklich, und die Erfüllung von dem, was sie sich selbst erwünscht hat, bringt ihr keine Ruhe. Für uns ist kein Zurück gewünscht und auch nicht möglich. Wir würden nur noch unglücklicher werden und ein noch trostloseres Leben führen.
     
    Großvater hatte sich also tatsächlich mit seinem ganzen Haushalt in Zandvoort niedergelassen, in froher Erwartung von Oma Annetjes Ankunft. Und Oma Annetje und ihr künftiger Stiefsohn Lepel hatten sich auch schon seit Jahren gekannt, wie hätte sie sonst jahrelang seine ›Beichtmutter‹ sein können? Warum hatte mein Vater mir dann so nachdrücklich versichert, dass er sich nicht erinnere, sie am Overtoom jemals gesehen zu haben?
    Etwas ging aus diesem Brief unumstößlich hervor, nämlich, dass meine Oma Pij von dem ganzen Arrangement unangenehm überrascht worden war.
    ›… ist jede Ordnung dann eine endgültige‹, schrieb Großvater. Ironie des Schicksals: Letztendlich sollten sie zu dritt kaum ein Jahr in Zandvoort bleiben, bis Großvater und Oma Annetje – nein, nur Oma Annetje – im Oktober 1940   Vosseveld kaufte.
    Ich blätterte die Abteilung ›Finanzen‹ durch und stieß auf ein Bündel karierter Blätter mit minutiös geführter Buchhaltung von Onkel Henk, die sich über die Jahre 1935   –   1955 erstreckte. Wie jemand für so etwas die Geduld aufbringen konnte, war mir ein Rätsel. Wirklich alles stand dort aufgelistet und belegt – bis zur Anschaffung von Rasiermessern, Rückfahrkarten nach Soest, einer

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