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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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Kuli:»Kabinettskrise. Oxydation   … nein. Oxydationsprozess? Hab’s! Ein Sternzeichen, letzter Buchstabe r   … Widder? Nein. Das sind sechs.« Sie kratzte sich mit dem Kuli im Haar, das ihr lose über die Schulter fiel. »Ich hab’s. Stier.«
    Höchste Zeit für sie aufzustehen. Oma Annetje zog ihren seidenen Morgenrock an und ging auf den Balkon. Es nieselte. Oma Annetje schüttelte sich die Tropfen aus den Haaren. »Ich werde alt«, sagte sie. »Mir gefällt jedes Wetter.«
    Durch den Spalt der Badezimmertür konnte man sie ein bisschen bei ihrer Morgentoilette beobachten. Ich sah, wie sie das Korsett aus Walfischknochen anzog, dann den unpraktischen Büstenhalter, darauf den seidenen Unterrock, den sie gerade geflickt hatte.
    Danach bürstete sie sich, vor dem Frisiertisch sitzend, das weiße Haar mit der silbernen Bürste, auf der ihre Initialen eingraviert waren, so wie auch auf ihrem Handspiegel und der Kleiderbürste   – Geschenke zweifellos vom alten Oud. Sie lächelte mir im Spiegel zu. Mit einem Griff packte sie ihre Haare, drehte sie und steckte sie zu einem eleganten Dutt fest. Darauf wurde dann ausgiebig Lavendel aus dem Kristallflakon gesprüht.
    Nach meinem Frühstück im Bett trug sie mich die Treppe hinunter und brachte mich in Großvaters Sessel unter, wo ich Zeichenutensilien, Spiele und Bücher in Reichweite hatte.
    Wir waren glücklich, damals. Ich auf jeden Fall. Aber sie auch. Sie genoss das Haus, den Garten, das Wetter und uns – die Kinder, die zu Besuch kamen. Sie war erleichtert nach Großvaters Tod, und wer konnte ihr das übel nehmen.
    Wenn ich damals geahnt hätte, was sich hinter diesem lieben Gesicht und diesem Engelshaar verbarg!
    Oma Annetje bestand darauf, dass ich nachmittags eine Stunde auf dem Diwan im Wohnzimmer ruhte. Dann deckte sie mich zu, zwischen den rauen, steifen Kissen, die nach Großvater rochen. Die Tür zur Diele blieb einen Spalt breitauf, so dass ich sie die Patience-Karten mischen, im Schrank kramen und beim Kreuzworträtsel pfeifen hörte.
    Meistens wachte ich erst auf, wenn der Tee schon bereit stand. Manchmal konnte ich auch nicht einschlafen. Dann spürte ich das hohe Zimmer um mich herum. Das Haus war voller Geräusche. Es knarzte. Es seufzte. Nachmittags ging es noch, aber abends, als das Zimmer voller Dunkelheit hing, war ich hier nicht gern allein.
    Im Erker stand noch Großvaters Staffelei mit seiner letzten, unvollendeten Waldansicht. Die Wände waren mit seinen Bildern behängt: Stämme, an einer Seite von der Sonne beschienen, hier und dort ein Häuschen zwischen dem Grün. Auf dem Flügel lagen noch Stapel von Noten. Dort standen auch die Elefanten aus Ebenholz, die er – scheinbar angestrengt – für uns hochhievte, wobei er den größten ›beinahe‹ fallen ließ – wir fielen immer drauf rein. Auf dem Kamin thronte der Porzellanbuddha; links davon stand Großvaters Foto: ein ruhiges, freundliches Gesicht mit kleinen Augen hinter runden Brillengläsern. Wenn sich die Gardine im Luftzug wölbte, schien es, als könne er jeden Moment hinter seinem Flügel auftauchen.
    Doktor Veldkamp kam jetzt nicht mehr seinetwegen, sondern meinetwegen. Ich konnte ihn schon von der anderen Straßenseite herüberkommen sehen. Ich hörte die Windfangtür quietschend aufgehen und die leisen Stimmen in der Vorhalle.
    »…   noch Todesängste ausgestanden   …« (Oma Annetje)
    »…   die letzten Jahre doch ruhig?« (Doktor)
    »…   da war ein Loch in seinem Gedächtnis.« (Oma Annetje)
    Das ging also gar nicht um mich. »Hallo, ich bin wa-hach«, rief ich, und Doktor Veldkamp kam das tun, wofür er gekommen war: Er sah nach meinem Bein.
    Als ich erst einmal einen Gehgips hatte, humpelte ichOma Annetje durchs Haus hinterher. In der Küche roch es nach Äpfeln und Scheuerpulver. Die Anrichte aus Granit war rau an den Rändern, ein paar schwarzweiß karierte Kacheln im Spülbecken waren lose, die Knöpfe an den Schranktüren wackelten, doch in dem gläsernen Geschirrschrank prunkten Porzellantassen und -schalen.
    Oma Annetje harkte die Wege und grub im Garten um. Sie schippte Kohlen im Schuppen, leerte sie eimerweise in den Rachen des Heizungskessels. Sie inspizierte die Vorräte im Keller, wo Kastanien, Nüsse und Äpfel auf Zeitungspapier zum Trocknen auslagen: noch genug Zucker und Mehl? Zimt nicht vergessen.
    Die Lieferanten kamen hintenrum an die Küchentür. Oma Annetje ging mit ihnen in einem knappen und sachlichen Ton um. Der Fleischer

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