Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
brachte Schnitzel, der Schuster die neubesohlten Schuhe. Wurde einer von ihnen wegen Schnee oder Regen hereingebeten, dann musste er sich zuerst die Füße abwischen. Bekam er Kaffee, dann in einer der alten Tassen, die keine Untertasse mehr hatte.
Der Bäcker hielt Oma Annetje seinen Korb unter die Nase. Sie wählte das knusprigste halbe Weißbrot und das braunste Vollkornbrot aus. Vor dem Verzehr wurde es zur Desinfizierung durch die Gasflamme gezogen. Wenn das Pferd des Gemüsehändlers vor dem Tor hielt, humpelte Oma Annetje hinaus, um einen prüfenden Blick auf die Ware zu werfen: »Die Bohnen sehen ja nicht so frisch aus, Hoef. Gib mir heute mal die Karotten.«
Zwischendurch raspelte und pellte Oma Annetje, schüttelte Salat aus, brach Bohnen oder briet Hackfleisch. Sie summte bei der Arbeit – Ansätze zu Melodien, die, bevor sie so richtig aufblühen konnten, schon wieder im Keime erstickt wurden.
Sie gab mir Haushaltsunterricht. »Das Geheimnis ist: Immer alles aufräumen. Und alles vorher vorbereiten. Dannmuss das Essen nur noch aufgesetzt werden, und man hat Zeit für schöne Dinge.« Die Erfahrung musste sie bei ihren vielen Wochenpflegen und im vornehmen Haus von Oud gemacht haben.
Ich half ihr beim Kartoffelschälen. War eine Schale bis zum Schluss ganz geblieben, dann warf Oma Annetje sie über ihre linke Schulter, um zu sehen, wen ich heiraten würde. Ein F, fand sie; ich fand, dass es eher aussah wie ein S.
Schalen und Strünke wurden für den Abfallsammler aufbewahrt, in dem viereckigen Schaleneimer, aber die Knochen und Essensreste waren für Boenia, den Hund der Nachbarn. Jeden Morgen hörte man die Nachbarn rufen: »Boenia-a! Hier!«
»Na, komm mal hierher, du Vogelscheuche«, murmelte Oma Annetje und gab ihm eine kalte Kartoffel und ein paar Bohnen, mit einem Blick zum Nachbarhaus rechts, hinter den Edelkastanien, wo man sich, ihr zufolge, nicht genug um ihn kümmerte.
Vielleicht war dies wirklich ihre glücklichste Zeit. Sie war Herrin im eigenen Haus, dem ersten Haus ihres Lebens. Bezahlt – zugegeben – mit Ouds Geld. Mit Geld, das er Großvater geschenkt hatte. Aber sie war davongekommen mit ihrem kleinen Täuschungsmanöver. Onkel Henk hatte es verstanden, die Proteste zu besänftigen. Bei der Familienzusammenkunft sitzt sie strahlend hinter ihrem Teeservice, umgeben von Mansborgs, ein aufgeräumter Lepel an ihrer Seite. Noch einige Jahre lang konnte sie ihre Festung verteidigen, bis sie dem Druck nicht länger standhielt und an Nikolaus des Jahres 1957 diesen beinahe tödlichen Fahrradunfall hatte.
Die Kunde schien schon bald nach Indonesien durchgedrungen zu sein. Tante Rita schrieb darüber am 18. Dezember 1957 – kaum zwei Wochen nach dem Ereignis.
Gestern waren wir in Medan bei Johan und lasen dort von Anks Unfall, und abends fanden wir Deinen Brief vor. Was für eine traurige Geschichte und was wird die Ärmste für Schmerzen haben, denn es hat sie ja ganz schön erwischt! Eine Gehirnerschütterung, gerissene Niere und Wirbelfraktur. Ja, Lepel ist da mal wieder gut bei weggekommen, was ist er doch für ein wundersamer Junge! Wenn Du uns nicht geschrieben hättest, würden wir von alledem immer noch nichts wissen! Und was soll jetzt mit ihr geschehen? Sie ist doch schon so bejahrt und wird wahrscheinlich auf Hilfe angewiesen bleiben. Denn nur weil sie andere Menschen gepflegt hat, kann sie sich jetzt ja nicht um sich selbst kümmern. Nun ja, das ist für später, schlimmer ist, dass es ihr passiert ist, vor allem ihr, die fremde Hilfe nicht erträgt.
Nach Oma Annetjes Unfall entstand der Plan, Vosseveld umzubauen, damit wir dort einziehen könnten.
Meine Mutter hat später oft geseufzt: »Wir hätten nie damit anfangen sollen.«
Wir Kinder sollten das alte Gästezimmer kriegen, das durch eine Zwischenwand in zwei Räume aufgeteilt wurde, einen für die Jungs und einen für Lieske und mich. Das alte Fenster mit den Läden musste dran glauben; stattdessen kamen zwei kleine Fenster, für jedes Zimmerchen eines.
Die Diele und das Schlafzimmer mit dem Balkon blieben Oma Annetjes Domäne; das Vorderzimmer sollte unser Wohnzimmer werden. Das Seitenfenster auf der Boenia-Seite wurde zugemauert. Dort wurde das neue Schlafzimmer für meine Eltern angebaut, das Vestibül aus Naturstein, unser neues Badezimmer und der Traum meiner Mutter: die hellgrün gespritzte Bruynzeel-Wohnküche, wofür die Außenmauer von Oma Annetjes alter Küche entfernt wurde. An die
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