Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Stelle, wo ihr Küchenschrank gestanden hatte, kam eine separate kleine Anrichte, an der Oma Annetje ungestört weiterhin ihre eigenen Sachen zubereiten konnte.
Eine solide, moderne Haustür aus verstärktem Glas, neben der erweiterten Fassade, bot Zugang zu unserem Anbau.
Im Frühjahr 1958 war alles fertig, und wir zogen nach Vosseveld um.
Wir hatten uns so lange darauf gefreut, und doch wurde es kein glücklicher Anfang. Ostern stand vor der Tür, das erste Ostern im neuen Haus. Es wurde Palmsonntag, aber mein Vater sagte, dass ihm der Sinn nicht nach der
Matthäus-Passion
stehe. Auch meine Mutter hatte Bedenken.
In früheren Jahren, in unserm Reihenhaus, hatten wir dem Osterkonzert schon Wochen zuvor entgegengefiebert. Mein Vater war stundenlang mit allerlei Kabeln beschäftigt. Beim Testen des Stereo-Effekts ertönte es aus dem kleinen Radio: »Vom linken Empfänger zum …« Und aus dem großen Philips: »… rechten Empfänger. Vom rechten Empfänger zum … linken Empfänger.«
Im Hintergrund erklang erwartungsvolles Gescharre und Gehuste aus dem Großen Saal des Concertgebouw. Die lange Liste von Sängern und Instrumentalisten wurde vorgelesen. Der Dirigent wurde angekündigt: Eduard van Beinum. Ein kurzer Applaus, der wie durch Zauberstreich verstummte. Geticke, Gehuste, Geknarze mit einem Stuhl. Eine lange Stille, in der ich unverwandt auf meine Hände blickte und wusste, dass Marys Nasenflügel zitterten. Dann der unerbittliche Akkord, die pumpenden Bässe, die ominösen Oboen und die strahlende Klage des Chors.
Diesmal saß ich allein am Radio im gerade bezogenen Vorderzimmer, Großvaters uralte Partitur auf dem Schoß. Das kleine Radio war im Kutschhaus geblieben. Meine Eltern saßen mit Oma Annetje in der Diele beim Kaffee. Es wurde angeregt geplaudert, ich hörte Mary lachen. Danach ging jeder seines Weges. Mary in die Küche, Lepel ins Kutschhaus, mein kleiner Bruder Bennie nach draußen, meine Schwester Lieske nach oben. Nur Jaapje blieb bei Oma Annetje.
Jetzt musste ich versuchen, den Text allein zu verfolgen.
Die Höhepunkte waren mir bekannt. Die Frage des Judas:
Bin ich’s, Rabbi? –
die Verleugnungen des Petrus, das Krähen des Hahnes, Judas’ Verrat, der Tod am Kreuz: Sie boten genügend Anknüpfungspunkte. Doch bald steckte Oma Annetje den Kopf in die Tür zur Diele, um zu fragen, ob der Hahn schon dran gewesen sei.
»Gleich«, sagte ich fachkundig.
Oma Annetjes Blick schoss scheu zu den neuen Gardinen. Zu dem neuen Bücherschrank, von Lepel gezimmert und von Mary sonnig gelb lackiert. Zum Klavier, das nach viel Geschiebe auf der Boenia-Seite gelandet war, wo Großvaters Flügel gestanden hatte.
Sie hörte eine Weile mit, aber der Hahn wollte nicht kommen.
Ich musste zugeben:
Ehe der Hahn krähen wird, wirst du mich dreimal verleugnen
war schon gewesen, aber die Verleugnung selbst kam erst im zweiten Teil.
Lieske platzte mit der Frage herein, ob ich nach draußen spielen kommen wolle. Herablassend wies ich sie zurecht.
Mein Vater erschien von der Boenia-Seite, ausgerechnet als Judas sagte:
Er ist’s. Den greifet
, worauf er Jesus küsste. Dadurch fiel Jesu traurige Antwort:
Mein Freund, warum bist du gekommen?
für mich ins Wasser. Mein Vater suchte etwas in dem neuen, gelblackierten Bücherschrank und hatte mir den Rücken zugekehrt. Anscheinend fand er es nicht und verschwand wieder, ohne ein Wort zu sagen. Meine Mutter kam hereingeschneit, um das
Erbarme dich
zu hören. Aber noch bevor die Arie zu Ende war, wollte sie sich schon wieder in unseren neuen Wohntrakt zurückziehen.
»Findet ihr es denn nicht mehr schön?«, rief ich ihr hinterher.
Sie drehte sich in der neuen Türöffnung um. Ihre Nasenflügel zitterten. »Wir finden es
zu
schön, mein Kind«, sagtesie, die Hand auf der Klinke. »Und deinen Vater erinnert es zu sehr an seinen Vater.«
Das verstand ich schon. Jetzt, da der Flügel weg war und alles so leer und hell; jetzt, da Großvaters Bilder abgehängt waren, das frische Weiß nur durch ein einziges buntes Aquarell durchbrochen, schien der Raum umso stärker zu sprechen.
Mit all dem hatte ich jetzt den Faden verloren.
Denn es ist Blutgeld, denn es ist Blutgeld …
das gehörte zu Judas’ Verrat, oder kam das erst später? Ich blätterte und blätterte, fand es aber nicht. Ich hatte Mühe, meine Gedanken noch bei der Musik zu behalten. Bei den langen Arien im zweiten Teil gab ich auf.
Das Vorderzimmer lastete schwer. Es hing hier alter
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