Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Kummer. Vom Erker aus sah ich die Jansen-Schwestern von gegenüber aus dem Auto ihres Vaters steigen, zurück von der Kirche. Sie trugen neue Faltenröcke und Lackschuhe mit Bändchen. Ihr blondes Haar glänzte wie Gold in der Sonne. Ihr Bruder Ron drehte auf seinem Rennrad Runden um sie herum.
Aus reiner Dickköpfigkeit blieb ich im Wohnzimmer. Es war, als hätte das Werk seinen Glanz, das Überwältigende plötzlich verloren, jetzt, da niemand mehr mithören wollte.
Es war nicht die einzige Enttäuschung, die uns nach dem Umzug erwartete. Denn die Aufteilung in zwei separate Wohneinheiten schien in der Praxis nicht zu funktionieren. Unser Eingang lag rechts um die Ecke der neuen Fassade. Zwar hatte Lepel die Gartenpforte an unserer Seite verbreitert und ein pfeilförmiges Schild aufgestellt: eingang diese seite. Aber Nicht-Eingeweihte waren anscheinend blind für das Schild. Besuch für uns ging weiterhin hartnäckig durch das alte Tor und klingelte dann, zur beiderseitigen Verärgerung, bei Oma Annetje.
Das neue Badezimmer war ein Wunder an Komfort. Aber wir Kinder schliefen oben. Wenn wir nachts mal mussten, hieß das: Wir mussten die Treppe hinunter und durch das Vorderzimmer, um unser Bad zu erreichen. Oma Annetjes altes WC dagegen lag direkt hinter der Treppe. Schon bald wurde das Verbot, Oma Annetjes WC zu benutzen, mit Füßen getreten, zur Zufriedenheit von Oma Annetje, doch zum Zorn meiner Eltern.
Die neue Wohnküche, Hoffnung und Stolz meiner Mutter, war zum beabsichtigten Mittelpunkt unseres Familienlebens geworden. Doch der neue Speiseschrank gab einen sonderbaren Geruch ab, der alles, was darin gelagert wurde, durchdrang, einschließlich des Hagelzuckers und der Aniszuckerstreusel.
Die altersschwache Kohlenheizung war durch eine moderne Ölheizung ersetzt worden. Doch der Heizkessel, der neben der neuen Anrichte auf Oma Annetjes Seite der Küche installiert war, brach alle Viertelstunde in ein dröhnendes Gerassel aus, um Minuten später wieder glucksend zu verstummen. War es wegen dieses Ungetüms, dass Oma Annetje die Küche zunehmend mied?
Die sonntäglichen Familienessen waren abgeschafft, jetzt, da wir uns doch täglich sahen. Anfangs hatte meine Mutter Oma Annetje noch manchmal gebeten, sich zu uns an den Tisch zu setzen. Sie war nie darauf eingegangen. Jetzt sahen wir sie lange vor der Essenszeit mit ihrem Teller in die Diele verschwinden. Als wir später die Treppe hinaufgingen, zu unserm Zimmer, saß sie dort allein mit ihrem Kreuzworträtsel oder ihren Patience-Karten. Immer öfter zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück.
Wenn ich bei ihr hereinschlüpfte, bevor ich meine Hausaufgaben machen musste, lag sie auf dem Bett und hörte Radio. Die Sendungen mit dem Schriftsteller Godfried Bomans. Ein Exemplar des
Denksports
lag aufgeschlagen auf der Decke.Es war ein einziges Wort eingetragen: Quarantäne. Es war ziemlich eng hier. Die Möbel aus dem Vorder- und dem Gästezimmer passten nicht alle in die Diele. Der Buddha stand jetzt auf dem Radio, daneben eine Vase. Apollo und Daphne standen wackelig auf dem Bücherschrank; Großvaters Elefanten träumten gemeinsam auf dem Sekretär, der aus dem Treppenhaus hatte weichen müssen und jetzt gegen Oma Annetjes Frisiertisch geklemmt war.
Auf dem Nachtschränkchen, zwischen ihrem Patience-Kartenspiel und dem Brillenetui, stand eine halb volle Tasse Milchkaffee mit einem Häutchen. Da lag auch das Fotoalbum. Hatte sie da reingeschaut, bevor ich kam?
Oma Annetje sagte, an ihrem Schal zupfend: »Geh jetzt mal wieder, Liebes. Deine Mutter will nicht, dass du so oft hier bist.«
»Sie wissen doch nicht, dass ich hier bin«, sagte ich leise und streichelte ihr den Arm. Ich blätterte etwas in dem Album. Seit wir nicht mehr mit dem Puppenbett spielten, waren die Krankenschwestergeschichten außer Gebrauch gekommen. Ich versuchte, Oma Annetje eine Krankenhausanekdote zu entlocken. Sie war nicht in Stimmung. Allerdings lebte sie einigermaßen auf, als ich ihr von der Schule erzählte, von meinem neuesten Schwarm. Dann mischte sie ihre Karten.
»Hm. Kreuzbube … Nun ja, Mädchen, ich habe ganz stark das Gefühl, dass du jung heiraten wirst.«
Unsere Vertrautheit konnte nicht verhindern, dass der Konflikt mit meinen Eltern eskalierte. Wir Kinder waren der Stein des Anstoßes, wenn wir auch nie ganz verstanden warum.
Erst heute, wo ich ihre ganze Geschichte kenne, beginne ich zu begreifen, wo das Problem für sie lag. Das Haus, das ihr
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