Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
mit wem auch immer nur ein Wort darüber reden müssen, ich habe das alles so satt. Ich habe wirklich Stoßgebete nach oben geschickt, um diese Woche vielleicht für immer einschlafen zu können. Man kann so müde werden von allem, aber es wird uns leider nicht gegeben, um auf unseren eigenen Wunsch ›Amen‹ sagen zu dürfen …
P.S. Mach Dir weiter keine Sorgen drum, Henk, bei dergleichen Exzessen erhitzen sich nun mal die Gemüter, aber es wird nie so heiß gegessen, wie es gekocht wird – Dir alles Gute …
Der Konflikt war aber wohl nicht mehr zu kitten. Die Stimmung wurde immer grimmiger. Ich erinnere mich an den Zorn meines Vaters, als wir das Verbot, Oma Annetje zu besuchen, wieder einmal übertreten hatten; Oma Annetjes hinkendes Gepolter durchs Haus; unser Mitleid, wenn wir sie alleine in der Diele sitzen sahen. Die Spannung wurde schließlich so groß, dass Oma Annetje den Rückzug antreten und ausziehen musste. Angesichts der fehlenden Alternativen ließ sie ihre Einrichtung vorläufig in Vosseveld zurück. Die ein Jahr dauernde Odyssee, die dann für sie anbrach, lässt sich in groben Zügen aus ihren Briefen an Onkel Henk rekonstruieren.
Ede, 7. Juli 1959
Lieber Henk,
mit Wohnung habe ich noch kein Glück. Es ist aber auch eine schwierige Zeit, die Leute warten die Ferien ab, sie können auch in Hülle und Fülle Leute kriegen mit aushäusiger Beschäftigung; und recht haben sie, ständig ein fremdes Gesicht im Haus ist auch kein Spaß. Ich probierte auch selber eine Anzeige in die Zeitung zu setzen. Alkmaar, Arnheim, Utrecht: Überall taten Familie und Freunde ihr Bestes. Ich habe schon leichte Hilfe im Haushalt angeboten, aber meine siebzig Lenze flößen offenbar nicht viel Vertrauen ein. Na ja, im Herbst vielleicht mehr Glück. Mitte Juli gehe ich wieder nach Alkmaar, sitze da gut und brauche mich nicht ›überflüssig‹ zu fühlen. Leider ist freilich ihr Haus nicht geeignet, um dort ein eigenes Zimmer zu haben, was jeder Mensch nun einmal braucht.
Jopie geht morgen für ein paar Tage nach Vosseveld, um die Kinder zu hüten, dann nehme ich die Gelegenheit wahr, um sie mal zu besuchen. Ich sehne mich schon sehr danach, alles mal wieder zu sehen …
Ich verschreibe gegenwärtig ein Vermögen an Porto, aber ein Mensch plaudert nach außen hin so daher. Wie es innen bei einem aussieht, kann niemand auch nur annähernd wissen …
In letzter Zeit liest man öfter Anzeigen für sogenannte Eigentumswohnungen für
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2000.– und Mietkauf. Ich werde mir das mal genauer ansehen, denn ich muss doch was haben.
Im Oktober 1959 wurde das Eigentum von Vosseveld offiziell meinem Vater übertragen. Wenn er damit gerechnet hatte, das Haus zu erben, hatte er sich getäuscht. Er hatte es Annetje abkaufen müssen, in der Form einer lebenslangen, in monatlichen Raten zu zahlenden Leibrente. Es sollten noch viele Witze darüber gemacht werden. »Ich habe es sicher schon dreimal abbezahlt«, pflegte er zu behaupten, als ihr Ableben immer länger auf sich warten ließ.
Was nicht bedeutete, dass Oma Annetje von der monatlichen Rente im Jahr 1959 einfach so ohne Weiteres hätte zweitausend Gulden auf den Tisch legen können. Dennoch schrieb sie sich für ein Mietkauf-Appartement in Baarn – fünf Kilometer entfernt von Vosseveld – ein. Sie nahm dafür ein Darlehen auf bei … Lous Oud! Wie zu lesen ist in Onkel Henks Abteilung ›Ann/Vosseveld‹. Ein weiteres Mal hatte ihr die Familie Oud aus der Patsche geholfen. Es dauerte noch knapp ein halbes Jahr, bevor sie in die Baarner Wohnung einziehen konnte.
Wenn das klappt, dann werde ich in Baarn wohnen, nur sehr unangenehm, dass es erst Anfang 1960 einzugsbereit ist. Aber auch das werde ich wohl überstehen. September oder Ende August dann wieder nach Alkmaar. Hoffentlich wird es ohne Komplikationen verlaufen. Das Sprichwort ›Gast und Fisch bleiben 3 Tage frisch‹ werde ich mir lieber nicht übers Bett hängen.
Im Dezember wanderte sie noch immer umher, von Familie zu Familie:
Bei Lena sind sie ganz wunderbar zu mir, und auch von der Familie und Freunden bekomme ich nette Aufmerksamkeiten. Aber ich bin gegenwärtig ein undankbares Hündchen und knurre weiter – wo ich die kommenden Wochen bin, weiß ich noch nicht …
Im Februar 1960 wurde das Appartement dann endlich übergeben. Oma Annetje musste nur noch ihre Möbel, soweit sie in ihrer Wohnung aufgestellt werden konnten, aus Vosseveld
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