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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorinde van Oort
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Mitte Juni 1941, nach der Genesung von seiner Krankheit. Er hatte eine Verabredung mit seinem Sohn Henk machen wollen, der, als Buchhalter-Assistent, angeboten hatte, ihm bei seiner Steuererklärung zu helfen. Wegen seiner Krankheit war Großvater Aufschub gewährt worden – eine völlig stimmige Geschichte. War es jemals zu jener Verabredung gekommen?
    Ich fand eine Ansichtskarte von Onkel Henks Verlobten Thea, vom 20.   Juli 1941.   Sie war anscheinend kurz nachGroßvaters Einlieferung auf Vosseveld gewesen und schrieb ihrem Schatz: »In Soest kriegt man Dinge zu hören, die ziemlich merkwürdig sind.« Tante Thea hatte sich also Fragen gestellt wegen Großvaters Einweisung.
     
    Ich suchte nach weiterem Material, fand aber nichts, bis mir auf einmal wieder dieses halb verkohlte Päckchen einfiel, das ich vor so vielen Monaten aus Lepels Kamin gefischt, aber damals nur flüchtig angeschaut hatte. Es waren Briefe von Großvater aus der Nervenheilanstalt Den Dolder und aus Zeist. Sie hatten ziemlich wirr ausgesehen, zu schlimm, um mich lange darin zu vertiefen.
    Ich grub das Päckchen aus meinem Papierberg aus, zupfte es behutsam auseinander und fing an, die Blätter nach Datum zu ordnen. Einige Seiten waren noch ziemlich intakt, andere fast völlig verkohlt. Anscheinend waren es nicht alles Briefe von Großvater. Der früheste, vom 18.   Juni 1941, war von Barend van der Wey, einem befreundeten Dichter, von dem Großvater viele Verse vertont hatte. Er schrieb über Großvaters Beinbruch.
     
    Armer Pechvogel, ich habe mich schon ein bisschen gewundert, dass ich gar nichts mehr von Dir hörte. Aber so ist das eben – der eine schreibt, der andere weniger. Aber ich hätte nicht im Traume gedacht, dass
so etwas
der Grund für die Verzögerung sein könnte. Dass jemand sich vierzig Jahre lang täglich mit heilen Knochen durch das Gewirr von Trams, Autos, Fahrradfahrern, Karrengäulen und hastenden Menschen bewegt hat und danach binnen vierzehn Tagen sich ein so kostbares Körperteil wie das Bein bricht – in einem vergleichsweise stillen Dörfchen wie Soest. Wenn Du es nicht selber geschrieben hättest, hätte ich’s nicht geglaubt. Mensch, wie hast Du das bloß geschafft? Ein Schnellläufer bist Du doch nicht. Waren da Tommies am Himmel? Oder bist Du wie Hans-Guck-in-die-Luft herumgewandelt,weil Du gedacht hast: Was kann mir in Soest schon passieren? Ich habe mich seinerzeit wenigstens noch von einem Auto über den Haufen fahren lassen. Das ist noch erklärbar und sogar zu verteidigen. Aber einfach so guten Mutes ohne Mitwirkung von so einem Ding sich das beste Körperteil zu brechen, das ist starker Tobak. Was für eine Ruine von Luftschlössern! Armer Kerl! Aber zum Glück scheinst Du der optimistischen Spezies von Pechvögeln anzugehören   … Dass Du prima Hilfe hast, hättest Du gar nicht zu schreiben brauchen. Ich habe doch keine Tomaten auf den Augen. Aber bedauerlich ist es doch für euch beide, denn es ist viel von dem Glück, das Du Dir vorgestellt hast, für euch beide dahin. Und doch ist es noch ein Glück, dass Du außerhalb wohnst und somit nicht in einem düsteren Stadtgefängnis herumhumpeln musst. Und der Sommer ist erst im Werden und kann noch viel Schönes bringen. Wenn Dein Bein so gut verheilt wie mein Arm, dann hast Du noch eine Menge Wanderungen vor Dir, zumindest   … wenn Du in Zukunft gut Acht gibst.
    Halt Dich gut, lieber Kerl. Grüße mir die Gattin und Lepel. Bald hoffe ich euch allen dreien die Hände drücken zu können.
     
    Nun, wie es zu dem Beinbruch gekommen war, wusste ich ja bereits. Wichtig war mir allerdings auch, dass Barend van der Wey meinen Großvater offenbar noch in Zandvoort besucht hatte, kurz vor dem Umzug nach Vosseveld, und dabei nichts Beunruhigendes an seinem Freund bemerkt hatte.
    Es folgten einige Briefe von Großvater selbst. Verwirrt oder nicht, sie vermittelten einen einigermaßen detaillierten Eindruck von dem, was sich damals nach dem Umzug abgespielt hatte.
     
    Liebe Frau, heute ist der 16.   September 1941, also der dritte Dienstag. Für mich bedeutet das eine grausige Erinnerung an die schreckliche Reise am 2.   Sept. – Warum ist Lepel so spät gekommen?Ich hatte ihn schon morgens erwartet, harrte seiner in ängstlicher Anspannung. Ich dachte bei mir: Wenn wir wirklich nach Dinxperlo müssen, dann wird er doch sicher früh da sein. Warum hat man mir nicht mitgeteilt, wann er kommen würde? Nun vergingen Stunden über Stunden, aber wer

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