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Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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ich seit meinem Auszug aus Waldschmidts Villa zusammen bin.
    »Ich lebe allein, das habe ich dir doch gesagt. Warum glaubst du mir nicht?«
    »Du missverstehst mich«, antwortete Sibylle, »ich meinte, mit welchen Freunden du dich triffst. Früher war da unser Kreis, und jetzt? Du willst mir hoffentlich nichterzählen, dass du Tag und Nacht am Arbeiten bist und deine Wohnung nicht verlässt.«
    »Eigentlich ist es so. Mit den Kommilitonen habe ich keinen Kontakt, hatte ich nie, auch nicht während des Studiums. Und mein alter Bekanntenkreis, nun, das waren alles Waldschmidts Freunde, die sich nie wieder bei mir gemeldet haben. Du bist die große Ausnahme, Sibylle, du und Marco. Ich glaube, Waldschmidt will nicht, dass seine Freunde mit mir Kontakt haben. Wenn er erfährt, dass ich euch besucht habe, wird er nicht erfreut sein, er hasst mich.«
    »Ach was, er hasst dich nicht, er ist verletzt. Er hat dich geliebt, Paula, und er liebt dich noch immer. Das ist nun mal so, wenn der eine einen liebt und der andere nicht. Aber das hat doch nichts mit uns beiden zu tun, mit dir und mir. Vor mir musst du dich nicht verstecken.«
    »Tu ich nicht.«
    »Dann melde dich gelegentlich bei mir.«
    Sibylle sammelte Steine, die sie dann wegwarf, um andere aufzuheben und interessiert zu betrachten. Manchmal lief sie einige Schritte vor mir her, und ich hatte Mühe, ihr auf dem weichen Sand zu folgen, sie bemerkte es gar nicht. Dann stand sie ganz in sich versunken am Strand und schaute schweigend auf das Meer. Irgendwann setzten wir uns auf einen Findling der Uferbefestigung, Sibylle ließ ständig den dünnen Strandhafer durch die Finger gleiten.
    »Ist das nicht wunderbar?«, fragte sie. »Dieses Gras hat überhaupt keinen Mutterboden, ich weiß gar nicht, wovon es sich ernährt. Das hier ist alles nur trockener Sand, und es überlebt dennoch. Was für eine ungeheure Kraft muss in dieser Pflanze stecken! Einfach unglaublich. Und dabei ist es so unscheinbar, sieht nach nichts aus, nicht wahr?«
    »Das ist das Geheimnis. Die berühmte kleinste Größe, um mit fast nichts leben zu können, um alles zu überstehen.«
    »Willst du es nicht malen, Paula? Ich wünsche mir ein Strandhaferbild von dir. Wenn ich eins von dir bekomme, werde ich es in Berlin in mein Zimmer hängen. Als Mahnung.«
    »Als Mahnung für was? Sich zu bescheiden? Das klingt nicht eben nach Sibylle.«
    »Als Mahnung, nicht aufzugeben. Ich habe Krebs, Paula. Fortgeschrittenes Stadium. Ja, so ist das.«
    Ich sah sie fassungslos an. Ich sah sie an und hatte die absurde Hoffnung, sie würde gleich in ein Lachen ausbrechen, alles wäre nur ein dummer Scherz. Ich starrte sie mit offenem Mund an und wartete auf das befreiende Signal. Es war nur ein Witz, es konnte gar nicht anders sein, sie wollte mich erschrecken. Gleich würde sie anfangen zu lachen und sich darüber amüsieren, wie entsetzt ich ausgeschaut habe. Aber sie strich weiterhin wie geistesabwesend über die Grashalme. Sie lachte nicht, sie lächelte nicht einmal. Ich legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie an mich.
    »Seit wann, ich meine, seit wann weißt du es?«, fragte ich stockend.
    »Seit drei Wochen. Ich hatte einen Knoten in der rechten Brust ertastet. Ich ging noch am gleichen Tag zu meinem Frauenarzt, und der überwies mich umgehend in die Charité. Und dort dauerte es nur zwei Tage, bis sie Gewissheit hatten, bis sie es mir sagten. Sie wollten gleich operieren, denn der Krebs hat schon gestreut. Sie haben fünf Metastasen gefunden, und das müssen längst nicht alle sein. Jetzt wollen sie operieren, und dann soll es eine Chemotherapie geben. Da wird mit einer riesigen Kanone geschossen auf alles, was sich in meinem Körperbewegt. Und die Chance, es zu überstehen, liegt bei zehn Prozent, höchstens. Nun muss ich mich entscheiden. Ich kann den Krebs einfach ignorieren, denn es kann sein, dass er Ruhe gibt, dass er monatelang Ruhe gibt, auch jahrelang. Fünf Jahre, zehn Jahre, wäre das nicht schön? Oder Operation und Chemo, da braucht’s keinen Krebs, um dich umzubringen, da reicht eine einfache Grippe aus, die pustet dich um.«
    »Und was raten die Ärzte?«
    »Die machen es sich einfach. Es ist Ihre Entscheidung, sagen sie mir. Aber ich bin kein Arzt, ich kann es nicht entscheiden, jedenfalls nicht mit Verstand oder mit Fachkenntnis. Also bin ich gegangen, habe mich aus der Klinik entlassen. Ich habe zu ihnen gesagt, zuerst will ich Urlaub machen, dann sehen wir weiter.«
    »Und was sagt

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