Frau Paula Trousseau
eingeschüchtert.
»Frau Pallocks hat Ihre Mutter angerufen. Und ich denke, es ist besser, wenn Sie jetzt nach Hause gehen. Ihre Mutter wird Sie sicher erwarten.«
Paula nickte, blieb aber reglos neben dem Lehrertisch stehen.
»Na los. Packen Sie Ihre Sachen und gehen Sie nach Hause. Sie wollen doch sicher mit Ihrer Mutter ins Krankenhaus.«
»Danke«, sagte das Mädchen. Sie drehte sich um, ging zur Bank und packte die Schulsachen in ihre Tasche.
Ihre Mutter erwartete sie bereits. Die Schulsekretärin hatte in der Kaufhalle angerufen, und ihr Chef hatte sie daraufhin nach Hause geschickt, damit sie sich um ihren Mann kümmern könne.
»Ich habe im Krankenhaus angerufen. Es steht schlecht um Vater«, sagte die Mutter, als sie die Haustür öffnete, »wir sollen gleich hinkommen, also zieh dich nicht erst aus.«
»Kommt Clemens mit?«, erkundigte sich Paula.
»Natürlich.«
»Ich komme nicht mit«, rief Clemens vom Wohnzimmer durch die offenstehende Wohnungstür, »ich kann nicht laufen.«
»Du kommst mit. Ich sage das nicht noch einmal. Dein Vater liegt im Sterben, da wirst du hier nicht herumfaulenzen, das kann ich dir versprechen.«
»Ich geh nicht ins Krankenhaus. War lange genug in Krankenhäusern. Ich vertrage den Geruch nicht.«
»Es ist mir egal, was du verträgst. Du kommst mit. Das ist immer noch dein Vater, der dort liegt. Und wir wissen alle nicht, ob wir ihn noch einmal lebend sehen werden. Es kann sein, dass er stirbt, Junge, verstehst du das nicht?«
»Ist mir scheißegal«, sagte Clemens, »soll er doch krepieren. Ich werde ihn nicht vermissen.«
Die Mutter fuhr herum: »Was hast du gesagt?«
Sie rannte ins Wohnzimmer. Paula hörte, wie die Mutter ihren erwachsenen Bruder rechts und links ohrfeigte.
»Es ist dein Vater«, schrie sie, »dein Vater. Zieh dich an. Ich habe ein Taxi bestellt.«
Paula zog den Kopf ein. Sie hatte Angst vor dem, was nun passieren würde. Sie fürchtete, ihr Bruder würde die Mutter schlagen, und beide würden sich anbrüllen. Der Bruder würde sich schließlich in sein Zimmer zurückziehen und die Musik lautdrehen, um danach in seiner Kneipe zu verschwinden, und Mutter so lange und so viel trinken, bis sie auf einem Küchenstuhl vor sich hin heulen würde. Doch ihre Mutter erschien in der Tür, die Augen funkelten vor Zorn, Clemens hatte offenbar nicht zurückgeschlagen. Paula hörte, wie ihr Bruder schwerfällig aufstand. Er kam in den Flur und zog sich eine Jacke über. Vor dem Haus mussten sie zehn Minuten auf das Taxi warten. Sie warteten schweigend. Paula sah zu ihrer Mutter und zu ihrem Bruder, überrascht, dass Mutter sich gegen Clemens durchgesetzt hatte und der Bruder nicht weiter zu widersprechen wagte.
Im Krankenhaus durften sie nur kurz in das Krankenzimmer. Der Vater lag auf der Intensivstation, war wieder bei Bewusstsein, sollte aber nicht sprechen. Ein junger Arzt bat die drei in ein Zimmer, um sie über die Krankheit und über die weiteren Schritte des Chefarzts zu informieren. Er sagte, der Patient habe vermutlich einen Arterienriss im Kopf erlitten, also das, was man gemeinhin als eine Gehirnblutung bezeichne. Falls bei den Untersuchungen alle anderen Ursachen ausgeschlossen werden könnten und sich der Verdacht bestätige, werde man ihn am nächsten Morgen nach Dresden bringen, damit er dort operiert werde. Das sei ein Eingriff, für den das hiesige Klinikum nicht ausgerüstet sei. In diesem Fall müsse der Kopf des Patienten geöffnet werden, um an die Arterie zu kommen. Das sei nicht nur eine äußerst schwierige Operation, sie sei auch gefährlich, denn es könnten Nerven verletzt werden und ein irreparabler Schaden entstehen, andererseits gebe es keine Alternative, da bei einer erneuten Blutung, die unweigerlich und eher früher als später kommen werde, mit dem Tod zu rechnen sei.
»Wird er sterben?«, fragte Paula.
»Wir tun alles, um das zu verhindern«, sagte der Arzt, »aber ein Risiko bleibt. Die Operation ist alles andere als harmlos, ich will Ihnen da nichts vormachen. In Dresden sind die besten Ärzte für einen solchen Eingriff, aber Sie müssen auf alles gefasst sein.«
»Wie stehen die Chancen?«, fragte die Mutter.
»Sehr viel besser als noch vor zehn Jahren«, sagte der Arzt.
»Was heißt das?«, hakte sie nach, »wie hoch sind seine Chancen? Und von welchen Schäden sprechen Sie? Was kann bleiben?«
»Fünfzig Prozent, würde ich sagen«, erwiderte der Arzt zögernd, »fünfzig Prozent, dass er überlebt. So
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