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Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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sindunsere Erfahrungen. Und über mögliche Schäden lässt sich jetzt nichts sagen, das müssen wir abwarten.«
    »Was sind das für mögliche Schäden?«
    »Das kann man nicht sagen.«
    »Reden Sie, was kann zurückbleiben?«
    »Eine Lähmung vielleicht, eine rechts- oder linksseitige Lähmung. Oder das Sprachzentrum könnte geschädigt werden. Wir müssen abwarten. Wir bemühen uns nach Kräften.«
    »Wann wissen Sie, ob er hierbleibt oder nach Dresden gebracht wird?«
    »Das entscheidet der Chef, heute Abend oder morgen früh. Wir werden in jedem Fall unverzüglich handeln, um eine erneute Blutung zu verhindern.«
    »Ich rufe Sie heute Abend an. Kommt, Kinder, wir gehen.«
    Die drei verließen schweigend die Klinik. Vor dem Haus fragte Clemens seine Mutter, ob sie ein Taxi bestellt habe, und sie meinte, sie habe keine Lust, auf ein Taxi zu warten, sie würden mit dem Bus zurückfahren. Clemens protestierte, er könne mit seinem kaputten Bein nicht so weit laufen.
    »Ich habe nicht so viel Geld«, sagte seine Mutter, »wenn du Taxi fahren willst, dann bleib hier und bestell dir eins. Paula und ich nehmen den Bus.«
    »Ich kann mit dem Bein nicht laufen. Ich bin ein Krüppel, verdammt noch mal.«
    »Hör auf zu fluchen, Clemens. Die paar Schritte schaden nicht. In die Kneipe läufst du doch auch jeden Tag.«
    Paula beobachtete Mutter und Bruder, doch Clemens schwieg und humpelte neben ihnen zur Haltestelle. Daheim rief die Mutter Cornelia an, die in Altenburg lebte. Sie war seit einem halben Jahr mit einem zwanzig Jahreälteren Ingenieur verheiratet. Die Mutter teilte ihr mit, was Vater zugestoßen sei und sagte, sie solle sofort daheim erscheinen, um Vater im Krankenhaus zu besuchen. Cornelia erwiderte, sie habe keine Zeit, sie könne erst am Wochenende kommen. Ihre Mutter antwortete knapp, dass sie noch heute mit ihr rechne.
    »Heute, und keinen Tag später«, sagte sie und legte den Hörer auf.
    Als Paula sich erkundigte, ob sie am nächsten Morgen zur Schule gehen oder daheim bleiben solle, sah die Mutter sie entgeistert an: »Ich werde zur Arbeit gehen, und du gehst in die Schule. Wo wir jetzt allein sind, wird sich einiges ändern, für uns alle, aber ganz gewiss wirst du zur Schule gehen, mein Mädchen. Was hast du dir denn gedacht?«
    Der Vater wurde am Tag darauf mit einem Krankenwagen nach Dresden transportiert und vierundzwanzig Stunden später operiert. Zwei Tage danach wurde ein zweiter Eingriff vorgenommen, um ein Blutgerinnsel unterhalb des Gehirns, das sich nicht auflöste, zu entfernen. Am fünften Tag wurde er aus der Intensivstation in ein anderes Zimmer verlegt, er sollte noch für vierzehn Tage im Dresdner Klinikum zur Beobachtung bleiben, bevor er nach Hause entlassen werde.
    Seine Frau besuchte ihn am Tag nach der ersten Operation in Dresden. Er war nicht ansprechbar. Sie saß eine halbe Stunde an seinem Bett, redete nicht mit ihm und hielt auch nicht seine Hand, sie saß schweigend neben ihm und sah ihn an. Dann wartete sie im Korridor eine Stunde auf den Arzt, der ihr erklärte, die Operation sei gut verlaufen und sie seien zuversichtlich, er könne noch nichts über bleibende Schäden sagen, man müsse die nächsten Tage abwarten.
    »Wird er ein Krüppel sein?«
    Er zuckte mit den Schultern: »Ich weiß es nicht. Hoffen Sie. Oder beten Sie.«
    Daheim veränderte sich einiges. Zum ersten Mal seit Jahren frühstückte Clemens mit seiner Mutter und Paula. Seine Mutter hatte ihn genötigt herunterzukommen. Schlecht gelaunt und verschlafen saß er mit ihnen am Tisch, trank Kaffee und beklagte sich, so früh geweckt worden zu sein.
    »Du wirst ab sofort immer mit uns aufstehen«, sagte seine Mutter, »wir sind eine Familie, und da werden wir auch zusammen frühstücken.«
    »Ich bin aber noch müde.«
    »Dann geh früher ins Bett.«
    »Auf mich wartet keiner. Ich kann schlafen, so lange ich will. Wenn ihr aus dem Haus seid, gehe ich sowieso wieder ins Bett.«
    »Nein, Clemens. Du machst den Abwasch und räumst auf, während ich auf der Arbeit bin. Und um vierzehn Uhr will ich einen Topf mit geschälten Kartoffeln vorfinden, hast du verstanden?«
    »Kartoffeln schälen? Wer bin ich denn, eine Tussi? Außerdem kann ich sie nicht aus dem Keller holen. Ich bin ein Krüppel.«
    »In diesem Haus wirst du sehr bald nicht der einzige Krüppel sein. Und damit werde ich leben müssen. Also geh in den Keller und hole die Kartoffeln. Und wenn du nicht auf den Beinen gehen kannst, dann lauf auf Händen

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