Frau Paula Trousseau
hatten und mehr Aufträge als je zuvor hatten, wie sie mir sagten. Als ich sie bat, mir zu helfen oder mir einen Hinweis zu geben, wurden sie wortkarg und verabschiedeten sich bald. Ich schaute mir meinen Kontostand an und beschloss, etwas mehr als in den vergangenen Jahren umherzureisen, Kontakte zu knüpfen oder aufzufrischen. Drei Monate später bekam ich ein erstes Stipendium von meinem Bundesland zugesprochen, es rettete mich für ein halbes Jahr, ich konnte weiterhin an meinen Bildern arbeiten.
Trotz meiner finanziellen Situation reiste ich in den ersten Jahren nach der Maueröffnung viel, ich wollte die großen Museen sehen, die bisher für mich unerreichbar gewesen waren. Es wurden immer nur kurze Fahrten, kaum länger als zwei, drei Tage, und ich nutzte billige Busreisen, um nach Paris, Amsterdam und London zu kommen, und wohnte bei Bekannten oder in einfachen Quartieren, deren Adressen ich mir aus Reiseführern für Studenten heraussuchte. Gelegentlich nahm ich Michael mit, aber häufiger überließ ich ihn der Obhut von Kathi. Für mich waren es schließlich Arbeitsreisen, ich hatte etwas nachzuholen, ich wollte endlich die Originale jener Bilder sehen, mit denen ich aufgewachsen war, die mich geprägt hatten, ohne die meine Arbeiten nicht denkbar waren. Es waren sehr intensive Momente, wenn ich vor jenen Leinwänden stand, deren Reproduktionen ich jahrelang bewundert und studiert hatte. Wichtig und berührend für mich war nicht der Gedanke, nun endlich das Original zu sehen, vielmehr bekam ich endlich das wahrhaft Gemalte vor Augen, die Arbeit des Malers. DieReproduktionen verfälschen die Bilder, machen sie glatt, täuschen eine Perfektion vor, wo im Original noch der Pinselstrich zu sehen ist. Jeder originale Magritte weist Grobheiten auf und stellt das Handwerk aus, was in dem Hochglanz der reproduzierten Bilder völlig gelöscht und verschwunden ist. Es tat weh, dass ich diese Arbeiten erst so spät sehen durfte. Ich stand minutenlang vor ihnen, um sie in mich aufzunehmen, aber ich hätte auch heulen können. Ich hätte diese Arbeiten früher sehen müssen, viel früher. Nun hatte ich das Gefühl, etwas versäumt zu haben, was mir meine Zeit für immer geraubt hatte. Dieses war der ganz persönliche Preis, den ich für unser Jahrhundert zu zahlen hatte. Die kleine Paula hatte auch ihren Preis für den Riss durch diese Welt zu zahlen, und nun war ich zu alt, um das Verlorene zu gewinnen.
In Barcelona stieß ich auf eine Stahlplastik, drei riesige, ineinandergebogene Eisen, eine Arbeit, die mich unglaublich faszinierte. Ich war augenblicklich in ihren Bann geschlagen, ich fühlte eine Verwandtschaft, ich sah etwas von dem, was mir für meine Arbeiten wichtig war. Die Skulptur war von Chillida, einem Bildhauer, den ich nicht kannte und von dem ich nie zuvor gehört hatte. Ich war wie elektrisiert, las am gleichen Tag und noch in der Buchhandlung, was über diesen Bildhauer zu finden war, und bereits am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Zug nach San Sebastián, in seine Heimatstadt. Dort sah ich seine riesigen Stahlskulpturen, die vom Strand aus nach dem Horizont griffen, und man zeigte mir ein altes Bauernhaus, das zu seinem Museum umgestaltet werden sollte. Alles, was ich von ihm zu sehen bekam, war völlig anders als meine Blätter und Leinwände, doch noch nie hatten mich die Arbeiten eines Zeitgenossen derart bewegt und getroffen, fühlte ich eine solche Nähe und Verwandtschaft. Aber auch das war vorbei, er musste einalter Mann sein und auch ich war nicht mehr jung. Nicht jung genug, um neu anzufangen.
Ich hörte, Chillida sei in der Stadt. Einen Moment lang dachte ich daran, ihn aufzusuchen, aber nur einen unbedachten rührseligen Moment lang. Dann ermahnte ich mich, kaufte mir zwei Bildbände und fuhr zurück.
15.
An meinem vierzigsten Geburtstag fuhr ich mit Michael nach Leipzig, ich traf mich mit Cordula. Dass wir uns an meinem Geburtstag sahen, war Zufall. Ich hatte sie wiederholt um ein Treffen gebeten, ich hatte geschrieben und sie angerufen, ich hatte versucht, ihr alles zu erklären, mich bei ihr entschuldigt und ihr erzählt, wie es damals dazu kam, dass ich nicht ihre Mutter sein konnte. Ich hatte ihr in langen Briefen die Geschichte meiner Ehe erzählt, ich wollte nicht, dass sie mir verzieh, ich bat lediglich um ein Verstehen. Und um ein Treffen mit ihr, die ich eineinhalb Jahrzehnte nicht gesehen hatte. Trotz allem, was passiert war und was zwischen uns stand und uns lebenslang
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