Frau Paula Trousseau
Ligustersträuchen zwischen Luisenstein und der Tankstelle. Sie hatte die Tasche auf die feuchte Erde gelegt und sich daraufgesetzt. Ab und zu stand sie auf, um besser sehen zu können, und wie immer war sie aufgeregt, spürte sie ihren Herzschlag im Hals. Als sie ihre Schwester erblickte, war sie erleichtert, aber sie wagte es nicht, hinter dem Strauch hervorzukommen. Ihre Schwester war nicht allein, ihre Freundin Anne ging mit ihr. Sie wartete, bis die Mädchen vorbeigegangen waren, dann verließ sie ihr Versteck und lief ihnen hinterher. Sie konnte das Lachen der beiden hören und einzelne Sätze und Worte. Die zwei drehten sichnicht zu ihr um, doch sie hörte, wie Anne laut sagte: »Da ist wieder deine kleine Schwester«, und wie Cornelia gereizt erwiderte: »Kümmere dich nicht um Paula.«
Bei der geborstenen Litfaßsäule vor dem Stadtpark blieb sie stehen, denn sie wusste, dass sich die beiden an der Kreuzung trennen würden. Sie stand einige Meter entfernt und wartete, den Kopf hielt sie gesenkt und betrachtete ihre Schuhe. Sie hörte, wie die beiden Mädchen sich verabschiedeten und dann doch noch weiter miteinander schwatzten, und sie wartete geduldig. Ab und zu schaute sie verstohlen zu ihnen, aber die kümmerten sich nicht um sie. Anne sah manchmal zu ihr, aber Cornelia drehte nicht ein einziges Mal den Kopf. Als Cornelia endlich weiterging, rannte sie rasch hinterher. Ihre Schwester machte jetzt große Schritte, und Paula hatte Mühe mitzuhalten. Sie liefen nicht direkt nebeneinander, das wollten beide nicht, die kleine Schwester blieb einen Schritt hinter ihr. Plötzlich blieb Cornelia stehen, drehte sich um und fauchte: »Ich habe es so satt.«
Paula war sofort stehen geblieben und musterte ihre Schuhe.
»Es steht mir bis hier«, schnaubte Cornelia, »warum kannst du nicht allein nach Hause gehen? Warum musst du mir immerfort hinterhertrotten? Du lässt mich nicht einen Moment in Ruhe.«
»Ich will nicht allein nach Hause gehen.«
»Stell dich nicht so an. Es frisst dich ja keiner.«
Paula hob den Kopf und warf ihrer Schwester einen so schmerzvollen Blick zu, dass diese sich gereizt umwandte und weiterlief.
»Kann nicht mal allein nach Hause gehen! Ist noch ein Baby! Aber andere Leute belästigen, das kann sie. Nie habe ich meine Ruhe. Wenn ich irgendwo mit meiner Freundin bin, kann ich darauf wetten, dass sie auftaucht.Das hat die ganze Schule schon bemerkt. Als ob ich eine Idiotin bin.«
Sie stapfte wütend weiter. Ihre Schultasche schlug fortwährend gegen ihre Waden. Die kleine Schwester ging hinterher und bemühte sich, Abstand zu halten. Während ihre Schwester weiterschimpfte und sie ihr schwer atmend folgte, glitt ab und zu ein schmales Lächeln über ihr blasses Gesicht. Cornelia blieb wieder stehen, drehte sich um und sagte eindringlich, wobei sie einen Zeigefinger in die Luft streckte: »Hör mir genau zu, Paula, wenn du zu blöd und zu feige bist, allein nach Hause zu gehen, dann warte gefälligst nicht in der Stadt auf mich. Du kannst genauso an der alten Eiche vor der Scheune herumstehen und dort warten. Ich will nicht, dass du dich vor allen meinen Freundinnen an mich hängst. Ich bin nicht deine Mutter.«
Paula nickte heftig. Den Rest des Weges gingen sie schweigend, Cornelia voran und die kleine Schwester immer hinterher.
Das kleine einstöckige Haus in der Waldsängerallee stand in einer Reihe vollkommen gleicher Einfamilienhäuser, die zwischen den beiden Weltkriegen gebaut worden waren. Zu jedem Haus gehörte ein Vorgarten und eine Wiese dahinter mit ein paar Beerensträuchern und zwei Stahlstangen für die Wäscheleine. Die Häuser waren rot eingedeckt, der Putz war pastellfarben und wechselte regelmäßig zwischen Blau und Gelb, doch das einst abgestimmte Bild war mit den Jahren durch Reparaturen zerstört worden. Bröckelnder Putz, Wasserflecken und graue Zementstellen zeigten sich nun an ganz unterschiedlichen Stellen der Häuser, und die einst einträchtig roten Dächer waren vom Moos befallen und schwarz vor Dreck, nur wenige waren gereinigt oder neu gedeckt worden.
Vor dem Haus fragte Paula ihre Schwester: »Ist Vati schon daheim?«
»Wieso fragst du? Er kommt zehn nach zwei, das weißt du.«
Die Haustür ging auf. Ihre Mutter stand im Eingang und betrachtete sie freudlos und schweigend, dann trat sie zurück, um sie einzulassen. Im Hausflur sah sie den beiden Mädchen zu, die ihre Mäntel auszogen und die Schuhe wechselten. Aus dem oberen Stockwerk war
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