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Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Ich bin ein Krüppel. Ich kann gar nichts.«
    Er schob den Stuhl zurück und hinkte zur Wohnzimmertür.
    »Und wie hat es dir geschmeckt?«, fragte seine Mutter.
    »Es ging«, sagte er, öffnete die Tür und humpelte hinaus.
    »Euer Bruder benimmt sich wie ein Schwein«, sagte der Vater, während die Familie die Geräusche aus Richtung Treppe verfolgte, »Krüppel hin oder her, man darf sich nie gehen lassen. Schreibt euch das hinter die Ohren.«
    Nach dem Essen brachte Paula mit ihrer Schwester und der Mutter das Geschirr und die Schüsseln in die Küche und wusch ab. Der Vater war am Tisch sitzen geblieben, hatte sich eine Tasse Kaffee bringen lassen, rauchte eine Zigarre und las die Zeitung, trank den Kaffee aus und ging in sein Arbeitszimmer. Paula huschte in das Wohnzimmer, sie legte die Zeitung auf die Ablage und trug die leere Kaffeetasse in die Küche. Nach dem Abwasch gingen die Mädchen in ihr Zimmer, um die Schularbeiten zu erledigen. Cornelia stellte das Radio an. Paula bat sie, es auszumachen, weil es ihnen streng verboten war, während der Schularbeiten Radio zu hören, doch ihre Schwester zuckte mit den Schultern und drehte es lediglich leiser.
    Eine halbe Stunde später hörten sie ihre Mutter aufschreien und zuckten zusammen. Cornelia machte mit einer Handbewegung das Radio aus, und beide Mädchen beugten sich tief über ihre Hefte. Sie hörten ihren Vater brüllen, er beschimpfte ihre Mutter.
    »Hör damit auf«, zischte Cornelia, als sie sah, dass Paula zitterte, »hör auf. Reiß dich zusammen. Wenn dich Vati so erlebt, kriegen wir beide wieder etwas ab.«
    Paula zitterte am ganzen Leib, ihre Augen waren starr auf die Tür gerichtet. Die Stimmen der Eltern entfernten sich, vermutlich waren sie in das Schlafzimmer gegangen, um sich dort weiter zu streiten. Cornelia ging an die Tür. Durch einen länglichen Riss, der das Türblatt in ganzer Länge spaltete, sah sie auf den Flur. Paula beruhigte sich, stellte sich neben die Schwester und starrte wie sie durch den Schlitz auf den Wohnungsflur. Eine Minute später rannte ihre Mutter über den Flur. Dann stapfte derVater mit schweren Schritten an der Tür vorbei. In der Küche fiel etwas zu Boden und zerbrach, es musste ein Glas oder ein Teller gewesen sein. Die Eltern beschimpften sich gegenseitig so laut, dass die Mädchen einzelne Worte verstehen konnten. Die Musik im Zimmer des Bruders wurde lauter, er hatte wohl auch den Streit gehört und den Lautsprecher voll aufgedreht. Cornelia ging an ihr Radio und stellte es an. Auch sie drehte den Ton so laut, dass die Musik den Streit der Eltern übertönte. Paula warf einen flehenden Blick auf die Schwester, aber die schlug ihr Arbeitsheft und das Schulbuch zu, steckte es in den Ranzen und sagte: »Ende der Schularbeiten. Jetzt können wir Musik hören. Oder kannst du bei diesem Krach arbeiten?«
    Paula packte ihre Schulsachen ebenfalls in den Ranzen. Die beiden saßen auf ihren Stühlen, taten so, als würden sie der Radiomusik zuhören, und achteten auf die Geräusche vor ihrer Tür. Sie hörten, dass ihr Vater in den Flur gegangen war, Cornelia stellte eilig das Radio aus, etwas wurde im Flur auf den Boden geworfen, die Schwestern vermuteten, dass ihr Vater die Pantoffeln ausgezogen und in eine Ecke geworfen hatte und sich nun die Straßenschuhe anzog.
    Paula und Cornelia schlichen zur Zimmertür und drückten ihre Köpfe an den Spalt. Sie konnten ihren Vater sehen, der sich seinen Mantel anzog, dann hörten sie die Haustür ins Schloss fallen. Eine halbe Minute danach, die Mädchen klebten noch immer an dem Türblatt, ging die Mutter langsam und wimmernd über den Flur ins Wohnzimmer, es klirrten Flaschen und Gläser. Ihre Mutter würde nun einen Schnaps trinken und bis zum Abend noch einen und noch einen, und sie würde immer lauter heulen. Sie würde den ganzen Nachmittag in der Küche sitzen, um vor sich hin zu heulen und zu jammern, zwischendurchimmer wieder ins Wohnzimmer schleichen, um sich ein weiteres Glas einzugießen. Sie würde den Mädchen das Abendbrot auf den Tisch stellen und selber nichts essen, sondern ihnen nur mit verheultem Gesicht zusehen. Der Bruder wäre zu dieser Zeit schon in seiner Kneipe, und der Vater würde erst am nächsten Morgen erscheinen, um seine Aktentasche zu holen und in die Schule zu gehen, die Nacht würde er bei seiner Freundin verbringen. Die drei Geschwister und ihre Mutter wussten, dass Vater eine Geliebte in der Stadt hatte, eine alleinstehende Frau, die auf

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