Frau Paula Trousseau
Schlagermusik zu hören.
»Wo kommt ihr her? Warum kommt ihr so spät?«
»Ich komme direkt aus der Schule. Wir hatten heute sechs Stunden. Steht doch auf dem Stundenplan am Küchenschrank«, sagte Cornelia schnippisch.
»Und du? Wo hast du dich herumgetrieben?«
»Ich habe auf Cornelia gewartet.«
»Wascht euch die Hände und kommt in die Küche.«
Die Mädchen nahmen die Schultaschen und rannten in ihr Zimmer zwischen der Küche und der Wohnstube. Cornelia warf die Tasche mit Schwung auf ihr Bett und setzte sich an den Tisch. Sie schloss die Schublade auf, holte ein geblümtes Buch hervor und schrieb einige Worte hinein. Dann folgte sie ihrer Schwester ins Bad.
Ihre Mutter rief nach ihr.
»Cornelia, geh hoch und sag Clemens, er soll die Musik leiser stellen. Und sag ihm, er kann gleich zum Mittagessen runterkommen.«
»Ich gehe nicht hoch. Auf mich hört er sowieso nicht.«
»Dann geh du, Paula.«
Das Mädchen öffnete den Mund, aber da ihre ältere Schwester sie streng ansah, verzog sie nur das Gesicht und ging die Treppe hoch.
Ihr Bruder lag auf dem ungemachten Bett, er trug nureine Schlafanzughose. Die Stützkorsage lag neben dem Bett, und den Verband hatte er abgewickelt, so dass Paula seine leuchtend rote Verletzung sehen musste. Von der Mitte des linken Oberschenkels bis zum oberen Schienbein zog sich die vernarbende fleckige Wunde, das tiefe Rot der zarten Wundhaut wurde von kleinen Inseln implantierter Haut unterbrochen, die man seinem Rücken und Gesäß entnommen hatte.
Clemens hatte im Uranbergbau gearbeitet und war ein Jahr zuvor von einer aus dem Gleis kippenden vollen Lore zu Boden gerissen worden. Eine halbe Stunde hatte er unter dem Eisenwagen und den Geröllstücken gelegen, ehe ihn seine Arbeitskollegen befreien konnten. Außer den leichten Verletzungen und Hautabschürfungen waren vier Rippen und die Knochen des linken Beins mehrfach gebrochen. Das Kniegelenk war vollständig zermalmt worden. Nach einem halben Jahr, das er in drei Kliniken und einem Kurkrankenhaus verbracht hatte, war er entlassen worden. Er war zwanzig Jahre alt, als er für dauernd arbeitsunfähig eingestuft wurde und eine Rente erhielt, die nur unwesentlich niedriger war als sein letzter Monatsverdienst. Seit dieser Zeit wohnte er wieder im Haus der Eltern, stand nicht vor dem Mittagessen auf, humpelte nach dem Essen in sein Zimmer und verließ es erst, wenn seine Freunde sich in der Kneipe versammelten, um dort bis zum Beginn der Polizeistunde zu sitzen und mit ihnen Bier zu trinken. Wenn er nach Mitternacht betrunken heimkehrte, weckten die Schritte, mit denen er die enge, steile Treppe erklomm, alle Familienmitglieder. Selbst sein strenger Vater hatte es aufgegeben, ihn zurechtzuweisen, da Clemens seit dem Unfall sofort ausfällig wurde und ihm Prügel anbot.
Paula blieb an der Tür stehen und sagte, er solle zum Essen kommen. Ihr Bruder reagierte nicht. In derrechten Hand hatte er eine Zigarette, die er nachlässig über einen alten Blumentopf vor seinem Bett hielt, die linke Hand hatte er in die Schlafanzughose gesteckt. Er sah zur Zimmerdecke und schien der lauten Musik zuzuhören.
Paula wiederholte ihren Satz und blieb an der Tür stehen.
»Verschwinde«, knurrte Clemens. Er würdigte sie keines Blicks.
»Hast du es ihm gesagt?«, fragte die Mutter, als sie in die Wohnstube kam.
Paula nickte.
»Und? Kommt er runter?«
»Ich weiß es nicht.«
»Na, gleich kommt Vater nach Hause. Dann kann er sein blaues Wunder erleben.«
Paula, ihre Schwester und die Mutter schauten auf die runde Wanduhr über dem Vertiko. Es war zwei Minuten nach zwei.
»Verteilt die Teller und das Besteck. Vergesst nicht Vaters Serviette. Und dann kommt in die Küche.«
Sie stellte mit der Schwester schweigend die Teller hin und ordnete sorgfältig das Besteck. Zum Schluss richtete sie noch zwei kleine Löffel aus.
Auf die Minute zehn nach zwei klingelte die Türglocke. Cornelia stand bereits hinter der Tür und riss sie auf. Ihr Vater nickte ihr zu, zog seinen Mantel aus, hängte ihn auf einen Bügel, brachte dann die Aktentasche in sein Arbeitszimmer und ging ins Bad. Paula, Cornelia und ihre Mutter hatten am Esstisch Platz genommen und teilten die Suppe aus. Man hörte die Spülung im Bad rauschen und gleichzeitig die schlurfenden Geräusche, die der Bruder beim Herabsteigen auf der Treppe verursachte.
Clemens betrat das Zimmer. Er war noch immer nur mit einer Schlafanzughose bekleidet, doch hatte er sicheinen Bademantel
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