Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
Vom Netzwerk:
übergestreift, den er nachlässig vor der Brust zusammengebunden hatte. Er setzte sich an den Tisch, nahm das Messer und schlug rhythmisch gegen den gefüllten Suppenteller. Die Mutter sah ihn an, sagte aber nichts. Alle warteten auf den Vater. Als er die Wohnstube betrat, schaute er zuerst auf die Wanduhr, dann betrachtete er prüfend die gedeckte Tafel, bevor er zu seinem Platz an der Stirnseite des Tisches ging und sich setzte.
    »Guten Appetit«, sagte er, nahm den Löffel und begann zu essen.
    Die Familie aß schweigend die Suppe, dann brachte die Mutter die Suppenterrine hinaus, und die Mädchen sammelten Teller und Löffel ein. Cornelia trug sie in die Küche und ihre Schwester ging ihr hinterher. Als die Schüsseln und Teller des Hauptgangs auf dem Tisch standen und sich wieder alle gesetzt hatten, ließ sich die Mutter von jedem den Teller geben. Der Teller des Vaters wurde als letzter gefüllt. Er hatte es so angeordnet, da er es für widersinnig hielt, dass der wichtigsten Person der Teller zuerst hingestellt werde, da das Essen zwangsläufig abgekühlt sei, wenn alle ihre Portionen hatten.
    Während die Mutter Fleisch und Gemüse auftat, erkundigte er sich bei den Töchtern nach der Schule. Von Cornelia wollte er wissen, welche Note sie in der mündlichen Leistungskontrolle im Fach Biologie erhalten habe.
    »Eine Drei«, erwiderte Cornelia bedrückt.
    Ihr Vater verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf: »Wieso?«
    Seine Tochter antwortete nicht, und er wiederholte die Frage.
    »Ich weiß es nicht«, sagte sie, »ich habe alle Fragen beantworten können.«
    »Willst du damit sagen, Herr Reschke hat dir zuUnrecht eine Drei gegeben? Meinst du, für deine wunderbaren Antworten hast du eine Zwei oder gar eine Eins verdient?«
    »Nein.« Cornelia schüttelte den Kopf.
    »Herr Reschke hat dir nur eine Drei gegeben, weil er glaubt, du würdest dich anstrengen. Das glaubt er wirklich. Was du ihm geantwortet hast, sei Kraut und Rüben gewesen. Unverarbeiteter Lehrstoff, sagte er mir. Was, zum Teufel, ist an der Morphologie so geheimnisvoll, dass man es nicht begreift? Kannst du mir das verraten?«
    »Ich habe alle Fragen beantwortet.«
    »Das hast du eben nicht. Du hast irgendetwas geantwortet. Irgendeinen Unsinn.«
    Als Cornelia die Tränen in die Augen stiegen und die Wangen herunterliefen, wandte der Vater sich Paula zu.
    »Und nun zu dir? Ihr habt die Mathearbeiten zurückbekommen. Welche Note?«
    »Ich bringe dir das Heft ins Arbeitszimmer.« Sie hatte den Kopf so tief gesenkt, dass sie die Knöpfe ihrer Bluse sehen konnte.
    »Welche Note?«
    »Eine Vier«, hauchte Paula.
    »Ja. Eine Vier. Und Frau Thomas sagte mir, es sei ihr unmöglich gewesen, dir eine bessere Note als eine Vier zu geben. Wahrscheinlich war es in Wirklichkeit eine Fünf. Ich habe zwei blöde Kinder.«
    Nun weinte auch Paula und bemühte sich, ihr Schluchzen zu unterdrücken, aber da sie noch immer den Kopf gesenkt hielt, bekam sie einen Schluckauf. Die Mutter lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Die Hände lagen neben ihrem Teller, und sie sah reglos zu ihrem Mann.
    Der Vater betrachtete angewidert das heulende Mädchen.
    »Na denn«, sagte Clemens laut, nahm die Gabel in dieHand, stocherte auf seinem Teller herum und fing an zu essen.
    Sein Vater sah wütend zu ihm, sagte aber nichts, sondern griff zu seinem Besteck und begann ebenfalls zu essen. Nach einigen Bissen sah er die Mädchen an.
    »Wollt ihr endlich essen«, schnauzte er.
    Die Mädchen griffen unverzüglich nach Messer und Gabel und schlangen ihr Essen herunter.
    »Du hast es wieder geschafft«, sagte die Mutter, »jetzt haben wir wieder unser wunderbares Familienleben.«
    Ihr Mann warf ihr einen Blick zu, atmete tief durch und aß weiter. Alle aßen schweigend. Die Mädchen kämpften mit den Tränen, die auf ihre Teller tropften. Nur Clemens schien völlig unbeeindruckt. Er war als Erster fertig, warf das Besteck auf den Teller, schob ihn von sich, rülpste und legte beide Unterarme auf den Tisch. Er schaute herausfordernd zu seinem Vater. Dann wandte er den Kopf zu seiner Mutter.
    »Gibt es Nachtisch?«
    »Nein. Heute habe ich keinen Nachtisch. Ich habe allein für das Essen zwei Stunden gebraucht.«
    »Auch gut«, erwiderte Clemens, stützte beide Hände auf den Tisch und drückte sich hoch, »dann geh ich in mein Zimmer.«
    »Clemens, warte noch«, sagte seine Mutter, »du könntest mir nach Tisch helfen, die Kartoffeln …«
    Clemens unterbrach sie: »Kann ich nicht.

Weitere Kostenlose Bücher