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Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Hochschule, um im Malsaal an einem Ölbild weiterzuarbeiten.
    Seit zwei Jahren arbeiteten wir in Öl. Ich hatte kleinformatig begonnen mit einem Stillleben, aber seit meinem dritten Bild waren die Formate größer geworden, ich spürte, dass ich Platz brauchte. Das Öl brauchte den Platz. Bei Kohle und Bleistift reichten mir die Zeichenblockblätter, da tat es auch ein Skizzenblock oder die freie Ecke irgendeines Blattes, weder das kleine Format noch bereits vorhandene Zeichnungen engten mich dabei ein, ich skizzierte auf dem verbleibenden Raum, und die Begrenzungen bereiteten mir keinerlei Mühe. Wenn ich jedoch vor der Leinwand stand, war das völlig anders, und als ich mich bei Professor Waldschmidt mit meinem Wunsch nach großen Formaten durchgesetzt hatte und zum ersten Mal in meinem Leben eine mehr als ein Meter breite Leinwand grundierte, war ich glücklich. Als sie getrocknet war und ich mit Blei und Kohle hätte beginnen können, tat ich nichts anderes, als sie zu betrachten. Ich trat dicht heran, um die Struktur zu erkennen, dann ging ich ein paar Schritte zurück, um die gesamte Leinwand zu sehen, immer einen Stift in der Hand, um jederzeit mitden ersten Linien zu beginnen. Dieses Stück weißliche und gespannte Leinwand erschien mir wie eine Welt, die ich gestalten würde, die ich schaffen durfte. Ich wagte es in den ersten zwei Stunden nicht, auch nur einen einzigen, zaghaften Strich zu ziehen. Manchmal machte ich mit der rechten Hand eine Bewegung, als ob ich eine schwungvolle Linie zeichnen würde, eine Handbewegung, die über die gesamte Leinwand führte, doch die Kohle blieb dabei Millimeter über dem Stoff, berührte die weiße Fläche nicht, zerstörte nichts von dieser noch nicht geschaffenen Welt. Ich bemerkte, dass Professor Waldschmidt gelegentlich in meine Richtung schaute und beim Vorbeigehen einen Blick auf die Staffelei warf, doch er kam erst gegen Ende der Doppelstunde zu mir. Als er die leere Leinwand sah, lächelte er.
    »Unschlüssig?«, fragte er.
    »Nein.«
    »Respekt? Angst? Hochachtung?«
    »Ja. Das trifft es eher«, sagte ich.
    Er nickte, stellte sich neben mich, legte einen Arm um meine Schulter und schaute mit mir auf die Staffelei.
    »Das ist gut, Paula«, sagte er, »das ist die richtige Haltung. Ein weißes Blatt, eine leere Leinwand, das ist etwas Heiliges, das man zu berühren sich scheuen sollte. Es ist ein Tabu, verstehen Sie? Und ein Tabu, das heißt, groß oder gar nicht berühren. Bevor Sie den ersten Strich setzen, müssen Sie die Seele der Leinwand kennen, sie zu Ihrer Vertrauten machen. Schließlich wollen wir hier keine Farbkleckser ausbilden, sondern Maler. Es gefällt mir, dass Sie Hochachtung vor der Leinwand haben, von mir aus auch Angst. Das ist die Voraussetzung, wenn etwas entstehen soll. Wenn Sie anfangen, dann dürfen Sie das Bild noch nicht kennen, Sie dürfen überhaupt nichts von ihm wissen oder sehr wenig, denn nur so lassen Sie sich aufein Abenteuer ein, statt nur auszuführen, was Sie ohnehin schon wissen und kennen. Aber eins muss in Ihrem Kopf sein: die Leinwand ist eine Kostbarkeit, die man nicht beflecken, nicht zerstören darf. Es ist heikel, sich dem Tabu zu nähern, Sie sollten es auf den Knien Ihrer Seele tun. Lassen Sie sich Zeit. Groß oder gar nicht, Paula!«
    »Und wie weiter, Herr Professor? Was soll ich nun tun? Auf den Knien meiner Seele, wie Sie sagen.«
    »Das liegt allein bei Ihnen. Jetzt muss das Handwerk hinzukommen und der Fleiß, dann ist alles beisammen. Denken Sie nach, schauen Sie sich gelegentlich die Leinwand an, wenn Sie in der Schule sind, schauen Sie einfach im Malsaal vorbei, wenn Sie einen Moment Zeit haben, und in der nächsten Stunde legen Sie los.«
    Er drückte mich an sich, was mir unangenehm war. Um mich aus seinem Arm zu befreien, bückte ich mich, um einen Stift aufzuheben und dabei einen Schritt zurückzutreten. Er hatte so freundlich mit mir gesprochen, aber an der Art, wie er mich an die Schulter fasste, spürte ich, dass sein Interesse an mir weniger uneigennützig war, als er vorgab, oder nicht nur meiner Arbeit galt. Nach meinen Erfahrungen mit Tschäkel wollte ich keinen der Lehrer mehr zu nahe an mich heranlassen. Ich lachte Waldschmidt zu und nickte, dann packte ich meine Sachen zusammen und ging zu Veit, der hinter mir an seinem Mama-Bild arbeitete, einem sehr dunklen Porträt, bei dem allein die hellen Augen und die völlig weißen Hände herausstachen. An den unteren Rand der Staffelei hatte er drei

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