Frau Paula Trousseau
geschrieben hatten, aber alles, was ich damit erreichte, war eine vollständige Malblockade. Das zweite Studienjahr war für mich verlorene Zeit, die philosophischen und kunsttheoretischen Bücher hattenmich unfähig gemacht, auch nur ein brauchbares Bild zu zeichnen. Die Lehrsätze lagen zentnerschwer auf meiner Hand, alles, was ich begann, war kraftlos, hatte keinen Schwung. Ich hatte mich selbst torpediert, ein Volltreffer. Ich brauchte nur zu einem Stück Kohle greifen oder dem Bleistift, und schon meldeten sich in meinem Kopf die klugen Sätze, mit denen ich ihn angefüllt hatte, doch Bilder entstanden nicht mehr in mir. In meinem Kopf gab es nur noch Worte, Sprachhülsen. Ich weiß nicht, ob es so etwas überhaupt gibt, aber ich fühlte mich vollkommen abstrakt. Ich wusste, wie ein erster Strich zu führen war, aber wenn ich mit dem Stift über das Blatt ging, brach die Linie sofort ab. Um einmal über ein gesamtes Blatt zu kommen, hatte ich dreimal anzusetzen. Es war, als wäre irgendetwas in mir zerbrochen. Meine Lehrer waren sehr geduldig mit mir, vielleicht, weil sie bemerkten, wie unzufrieden ich selbst war. Was ich zeichnete und malte, lebte einfach nicht. Es war alles tot, was ich zu Papier brachte, leblos. Es war nie falsch, es war sogar völlig richtig, aber es fehlte dieses kaum zu benennende Etwas, das ein paar Kohlestriche zu einem Bild macht.
Es dauerte ein halbes Jahr, bis ich mich von den Kunsttheorien wieder frei gemacht hatte. In dieser Zeit entwickelte ich eine Aversion gegen Bücher, ich hatte das Gefühl, dass die Schrift meine Bilder zerstört, dass alle Sätze mich in eine unsinnliche Welt führen. Acht Monate lang fasste ich kein Buch an, ich vermied es auch, Zeitungen oder Romane zu lesen, und bei den Bildbänden übersah ich die Erläuterungen und schaute ausschließlich auf die Abbildungen. Erst im dritten Studienjahr hatte ich meine Verirrung in Theorien überwunden, die Bilder begannen wieder zu leben. Ein ganzes Jahr hatte ich es vermieden, mit Öl zu arbeiten, mein Verhältnis zu den Farben war gestört, ich hätte allein mit den Tuben Schwarz und Weißgemalt, und für solche Bilder reichten Blei und Kohle. Ich kam mir vor wie neu geboren, als ich endlich wieder mit Freude vor der Leinwand stand, eine Tube öffnete und Farbe auf die Palette drückte.
Drei Monate später begann ich mit meiner ersten großen Leinwand, ein Landschaftsbild, eine Waldlichtung mit zwei Parkbänken, im Hintergrund ein winziger Fluss und eine Häuserzeile. Zuvor hatte ich fast fünfzig Skizzen gemacht, einiges hatte ich in einem Park in Pankow gezeichnet, andere Blätter in einem Dorf bei Berlin, die restlichen Zeichnungen entstanden aus der Erinnerung. Das Ölbild war fast monochrom, es gab alle Stufungen von Grün und einige wenige Brauntöne, die anderen Farben waren fast nur mit einer Lupe zu erkennen. Von Waldschmidt bekam ich so etwas wie ein Lob, das erste seit zehn Monaten. Er war gelegentlich zu mir gekommen, hatte sich das Bild angeschaut und mich auf irgendeine Kleinigkeit hingewiesen, aber als ich schon fast fertig war, schaute er sich meine Landschaft lange an, dann wandte er sich zu mir, lächelte und sagte: »Na endlich, Paula.«
Er verlor auch später nie wieder einen Satz darüber, aber diese Bemerkung machte mich glücklich. Ich verstand, was er mir damit sagen wollte, und ich war ihm dankbar, weil er mich in dem ganzen vergangenen Jahr nicht aufgegeben hatte. Er hatte an mich geglaubt, obwohl ich ihn und die ganze Schule mit meinen leblosen Zeichnungen sicher genervt hatte. Wenn er an diesem Tag mehr als diese zwei Worte gesagt hätte, wenn er mich angefasst hätte, ich glaube, ich wäre sofort mit ihm ins Bett gegangen.
Zu der Zeit hatte ich bereits mit den Vorarbeiten für das nächste Ölbild begonnen, und als ich die Waldlichtung beendet hatte, die gerahmte Leinwand von der Staffelei nahm und an die Wand des Malsaals lehnte, stellte ich den neuen Rahmen hoch und skizzierte sofort dieUmrisse eines weiblichen Akts auf der grundierten Leinwand. Ich hatte Skizzen von Kathi gemacht. Ich hatte sie im Oktober gefragt, ob sie für mich Modell sitzen würde, und sie hatte sofort eingewilligt. In der Hochschule konnte sie nicht für mich sitzen, sie hatte nur am Abend und am Wochenende Zeit, und so hatte ich sie in ihrer Wohnung gezeichnet. Sie hatte mir nackt oder halbnackt auf dem Bett, dem Sessel oder dem Badhocker gesessen, unentwegt geschwatzt, während ich zeichnete. Wenn ihr kalt
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