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Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Schirm und Stecken, wie es in der Kirche heißt. Ich will und werde sie nie schlucken. Ab und zu hole ich sie hervor, um mich zu beruhigen, um mich von ihrer Anwesenheit zu überzeugen, um das Verfallsdatum zu kontrollieren. Ich habe keinerlei Todesgedanken, wenn ich sie in die Hand nehme, im Gegenteil, die Schlaftabletten machen mir Mut. Schön, dass es diese kleinen Pillen gibt, ein wundervolles Geschenk der Wissenschaft, das Beste seit der Erfindung der Liebe, und ihre höchst notwendige Ergänzung, ein Lebenskorrektiv. Corriger la fortune lautete eine Vokabel, die ich im Französischunterricht zu lernen hatte, es war etwas anderes damit gemeint, aber bei mir heißen so diese kleinen blassen Pillen. Aus Versehen habe ich einmal diesen Namen zu einer Apothekerin gesagt, sie hatte mich zum Glück nicht verstanden.
    Es gab und gibt keinen Menschen, mit dem ich darüber sprechen kann. Mit Hans habe ich nie versucht, darüber zu reden. Gedanken an den Tod vermied er, und über den eigenen Tod nachzudenken oder gar zu sprechen erschien ihm verstiegen, er meinte, mit dem eigenen Tod habe man nichts zu schaffen, er sei das Problem der anderen, der Übriggebliebenen. Kathi ist viel zu lebenslustig, sie würde mich auslachen. Sie ist eine kräftige Person, bei ihr gibtes keine einzige faule Stelle. Der einzige Mensch, mit dem ich darüber reden könnte, ist meine Schwester, aber sie ist auch der einzige Mensch, mit dem ich keinesfalls darüber sprechen werde. Den alten Mann, den sie geheiratet hat, liebt sie nicht, aber es ist ihr nicht möglich, sich von ihm zu trennen. Das Einfamilienhaus in Altenburg hatten sich die beiden selbst gebaut, vom Munde abgespart geradezu, schon das allein macht den Gedanken an eine Trennung unmöglich. Diese Ehen werden durch ein Häuschen und einen gepflegten Vorgarten zusammengehalten. Irgendwann wird Cornelia sich umbringen, das steht für mich so fest wie das Amen in der Kirche. Um das Elternhaus zu verlassen und auf eigenen Füßen zu stehen, hätte sie auch einen Hundertjährigen geheiratet. So war sie aus einer Falle in die nächste gestolpert. Um aus ihrem Elend herauszukommen, hätte Cornelia mehr Kraft aufbringen müssen, als sie je besaß. Einmal musste ich ihre Ehegeschichte anhören, ich habe es danach immer vermieden. Mit Cornelia über mein corriger la fortune zu sprechen, das wäre vermutlich wie eine Einladung zum gemeinsamen Selbstmord.
    Ich bin unglücklich, dass Cordula nicht bei mir lebt. Ich bin froh, dass Cordula bei ihrem Vater aufwächst. Ich hoffe, es geht dir gut, mein kleines Mädel. Verzeih mir. Vielleicht werden wir uns einmal begegnen. Vielleicht treffen wir uns, wenn du erwachsen bist, davon träumte ich manchmal. Ich träumte davon, dass wir zwei einmal Freundinnen werden. Dass wir, eben weil wir dann zwei erwachsene Frauen sind, Freundinnen werden. Ich weiß, es wird nicht passieren, du wirst mich nicht kennenlernen wollen. Du hast mich aus deinem Leben gestrichen.
    Ich genoss es, nach Hause zu gehen und in einer leeren Wohnung anzukommen. Ich versäumte nichts, ich verspätete mich nie, ich konnte mich gar nicht mehr verspäten.Ich hatte plötzlich so viele Ideen, ich platzte vor Energie und Einfällen. Und ich arbeitete, um meinen Kopf zu beschäftigen.
    Das Winterbild hatte ich lange vorbereitet, ich hatte noch für keins meiner Bilder, auch nicht für meine fünf großen Ölbilder, so viele Vorstudien betrieben. Ich hatte Entwürfe gezeichnet, einige Blattaufteilungen und dutzendweise Details gestrichelt, die ich verwenden wollte, oder Skizzen gemacht, um eine Möglichkeit auszuprobieren. Als ich schließlich vor die Leinwand trat, benutzte ich diese Blätter nicht, ich hatte die Zeichnungen irgendwo im Kopf, aber nun war alles anders und ich hatte mich einem völlig anderen Format, einer anderen Herausforderung zu stellen. Wenn das Leinen gespannt und grundiert war, setzte ich mich davor und starrte auf die weißliche Fläche. Das waren die kostbarsten, die schönsten Augenblicke mit einem Bild. Nichts war zu sehen, alles war offen, die Vollkommenheit war greifbar und möglich. Ich malte das Bild allein mit den Augen. Mein Blick schweifte über die Leinwand, setzte imaginäre Striche und Punkte, pladderte die Farben heftig und großzügig auf den Stoff, um im nächsten Moment und mit einem Wimpernschlag alles wegzuwischen und neu zu beginnen. In diesen Stunden war ich am liebsten allein. Daher setzte ich mich meistens gegen Abend in den Malsaal, wenn die

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