Frau Prinz pfeift nicht mehr
war und für ihr Alter ungewöhnlich jung aussah.
Während Agnes Molden in die Küche ging, um Getränke zu holen, musterte Kemper rasch die Bücher im Regal: Gesamtausgaben Goethes,
Schillers, Shakespeares, Fontane, Lichtenberg, Rückert, Sophie von La Roche, Klaus Mann, Dostojewski, Bassani, von dem Kemper
unlängst gelesen hatte, daß man ihn entmündigen wollte. Die Moldens waren offenbar literarisch interessiert.
Agnes Molden kam mit einem Tablett zurück, das Interesse Kempers schien ihr zu gefallen, denn ihre Stimme wurde etwas wärmer,
als sie sagte: »In meinem Arbeitszimmer habe ich noch mindestens zehnmal soviel Lesestoff. Und jede Menge Fachbücher. Ich
möchte am liebsten ständig lesen, von morgens bis abends, nachts, immer.«
|158| »Und wann«, fragte Kemper höflich, »gehen Sie in die Disco?«
»So selten, daß ich manchmal heulen könnte. Der Job– die Zwillinge – ich glaube, ich bin zu früh Mutter geworden. Ich vertrag
die Pille nicht. Und jetzt muß ich es ausbaden. Ich glaube, ich erhole mich nie mehr von der Aufzucht dieser Kinder. Manchmal
denke ich, daß ich in alle Ewigkeit nur noch für diese Zwillinge da bin, ich werde älter und älter, um mich herum nur noch
Kinder-Chaos. Ich gerate völlig in Panik, wenn ich daran denke, daß die beiden bald in die Schule kommen. Dann bin ich wahrscheinlich
nur noch im Auto unterwegs, um sie in irgendwelche Förderkurse zu bringen.«
Agnes Molden hatte sich in einen Sessel geworfen, nachdem sie Kemper Wasser und Cola serviert hatte. Kemper dachte, daß sie
eigentlich nicht unsympathisch war, jedenfalls schien sie unsentimental, offen und selbstkritisch. Das fand man bei Frauen
selten. Jedenfalls bei so jungen. Aber Agnes Molden hatte ja einen ziemlich erdnahen Beruf. Als Sozialpädagogin wurde sie
nicht unbedingt mit den Sonnenseiten |159| des Lebens konfrontiert. Kemper hatte erfahren, daß sie sich besonders für Aussiedler einsetzte, das hatte sich herumgesprochen,
man bat sie immer wieder um Hilfe.
»Als die Aussiedlerfamilie bei Ihnen war – haben Sie da jemanden in der Nähe des Hauses gesehen, vielleicht jemanden aus der
Nachbarschaft?«
»Ach – es geht um das Baby von Winters?»
Agnes Molden wirkte erleichtert.
»Und ich dachte, Sie seien wieder wegen der Prinz gekommen. Glauben Sie immer noch, daß ich etwas mit ihrem Tod zu tun habe?«
Agnes Molden sah Kemper prüfend an, und jetzt fiel ihm auf, daß sie veilchenfarbene Augen hatte. Na wenn schon, deshalb war
er nicht hier.
Kemper ging nicht auf die Frage nach dem Fall Prinz ein, er hatte bei seinem Versuch, Ordnung in sein Gedankenwirrwarr zu
bringen, an das Weinen des Säuglings gedacht, der angeblich dem Hausmeisterehepaar gehörte, das aber gar nicht im dritten
Stock wohnte. Da wohnte Emilie Koch, die |160| frühere Zugeherin der Familie Prinz. Kemper wollte seinen Beruf aufgeben, wenn da nicht ein Zusammenhang bestand.
»Also, Sie haben niemanden auf der Straße gesehen, als die Familie Winter zum Lebensmittelladen ging?«
Agnes Molden dachte nach, schüttelte aber ratlos den Kopf, und Kemper fragte, was die Aussiedler denn bei ihr gewollt hätten.
»Frau Winter ist von ihrem Arbeitgeber betrogen worden. Der stellvertretende Filialleiter des Supermarktes am Rotkreuzplatz,
übrigens unser Nachbar Papke, zahlt ihr seit Monaten schon ihren Lohn nicht aus, schickt sie immer wieder weg, auch ihren
Mann, oder er läßt sich verleugnen, und da die beiden kaum Deutsch sprechen, wußten sie sich nicht zu helfen. Ihre Nachbarn
haben sie an mich verwiesen. Ich habe inzwischen für sie einen Brief an die Geschäftsleitung geschrieben, Papke ist entlassen.
Er mußte zugeben, daß er das Geld für sich verbraucht hat. Frau Winter bekommt den ihr zustehenden Lohn jetzt vom Unternehmen
nachbezahlt.«
|161| »Und dieser stellvertretende Filialleiter heißt Papke? Sind Sie sicher?«
»Natürlich. Unser Nachbar. Soll ich Ihnen die Korrespondenz zeigen? Der Geschäftsführer hat mich morgens um acht Uhr schon
angerufen, hat mich gebeten, nur ja nichts an die Presse zu geben, man werde Papke unverzüglich zur Rechenschaft ziehen. Übrigens
– wissen Sie etwas Neues von dem kleinen Winter? Gibt es eine Spur? Die Eltern sind schon völlig verzweifelt.«
Agnes Molden zeigte Kemper eine Zeitung. Auf der dritten Seite Fotos des Aussiedlerehepaares Winter, daneben ein undeutliches
Säuglingsbild des entführten kleinen Jungen. Die Zeitung
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