Frau Prinz pfeift nicht mehr
an, ließ sich das Haar kürzer schneiden, benutzte Wimperntusche und Parfum. Die Stiefmutter trompetete leutselig,
daß Herr Molden im Hause Prinz jederzeit willkommen sei.
|153| Es war an einem Sonntag. Ingrid hatte gerade mit einem seltsamen Glücksgefühl die am blauen Himmel rasch vorüberziehenden
Wolkenschwaden über den Gärten beobachtet und sich überlegt, ob sie Matthias Molden nicht zum Brunch herüberbitten solle,
da küßte der neue Nachbar in seinem Garten eine Frau. Frau Prinz senior hatte den Kuß von ihrer im ersten Stock gelegenen
Wohnung aus gesehen, und sie kam polternd herunter zu Ingrid, wollte wissen, obsie das Unerhörte auch gesehen hatte. Die Stiefmutter
fand diesen Kuß im nachbarlichen Garten derart sittenwidrig, daß sie mit rasselndem Geräusch eine Menge Schleim nach draußen
beförderte. Das küssende Paar im Nachbargarten fuhr erschreckt herum, da begann Frau Prinz senior auch schon zu pfeifen, hoch
und schrill und laut, und als das Liebespaar sich wieder einander zuwandte, eng umschlungen vom Garten zurück ins Haus ging,
sagte Frau Prinz, daß dieser Molden unverantwortlich sei. Die Frau sei ja höchstens achtzehn und keinen Tag drüber.
Von diesem Tag an fanden die beiden |154| Prinzschen Frauen, die bislang nichts als Widerwillen gegeneinander gespürt hatten, im Haß gegen die unbekannte junge Frau
im Garten, die sich den Nachbarn an Land gezogen hatte, zueinander. Mit einem Kuß hatte diese Frau die Hoffnungen zerstört,
die im Hause Prinz wenigstens einige Wochen lang für eine gewisse Hochstimmung gesorgt hatten. Während Ingrid wieder in die
nörglerische, freudlose und muffige Lebensstimmung eintauchte, die ihr normalerweise eigen war, bekam ihre Stiefmutter Auftriebfür
täglich neue Vorstellungen am Gartenzaun, mit denen sie den neuen Nachbarn ihre Verachtung demonstrierte.
12
Nach und nach hatte Kommissar Kemper dies erfahren. Vor ungefähr sechs Jahren war das gewesen. Wenn auch Ingrid Prinz-Papke
sich nur ungern über das Vergangene äußerte, hatte Kommissar Kemper doch genug |155| gehört, um die Stieftochter der Toten als mögliche Täterin in Betracht zu ziehen. Der nie geklärte Tod ihres Vaters, die Verzweiflungstat
des Bruders, das mußte starke Aggressionen in Ingrid Papke aufbauen, die jederzeit ausbrechen konnten. Seine Gespräche mit
Berthold Papke hatten Kemper gezeigt, daß auch Papke keineswegs harmlos war. Die Kollegen würden ihn wegen der Toten im Kanal
noch eingehend verhören. Und Kemper mußte dringend mit Agnes Molden reden. Schließlich war sie die einzige, die zur Tatzeit
daheim war, praktisch nebenan. Die Alibis von Ingrid Papke und ihrem Mann waren zwar nicht ganz hieb- und stichfest, bedurften
noch der eingehenden Überprüfung, aber es waren bis dahin Alibis.
Kommissar Kemper klingelte, und als Agnes Molden ihm die Tür öffnete, konnte er unschwer erkennen, daß sie nicht erfreut war,
ihn zu sehen. Das war nichts Neues für Kemper, er kannte wenige Leute, die über seinen Besuch froh waren, und so ging er an
Agnes Molden und einer albernen |156| Skulptur vorbei, die im Eingang stand und über die er sich ärgerte, weil er sie, weitsichtig wie er war, beim ersten Besuch
für eine elegante junge Frau gehalten hatte.
Immerhin war Agnes Molden wohlerzogen genug, ihn in einen gemütlich wirkenden Wohnraum zu führen, wo sie ihm einen Sessel
anbot. Offenbar mochte sie ihre Musik gern laut. Kemper gefiel, was er hörte, diese Art Musik war ihm völlig unbekannt, er
bemühte sich, zu verstehen, was ein Rapper und zwei äußerst stimmgewaltige Mädchen von einer vermißten Katze und über die
globale Klimakatastrophe mitzuteilen hatten.
»Das ist ja klasse!« entfuhr es Kemper, und Agnes Molden sah ihn erstaunt an. »Wirklich?« fragte sie gedehnt, und Kemper wußte,
daß er in ihren Augen ein alter Sack war, der unmöglich Hip-Hop gut finden konnte.
»Der Song heißt ›I love New York‹– möchten Sie etwas trinken?« fragte sie übergangslos, aber nicht unfreundlich. Kemper hatte
heute offenbar einen besseren Tag erwischt als beim ersten Mal. Er sah, daß |157| Agnes Molden wieder ein sehr kurzes, aufregend enganliegendes Kleid trug. Nach seinen Informationen war sie 28 Jahre alt, seit fünf Jahren verheiratet, Mutter von Zwillingen. Sie hatte nach dem Abitur Sozialpädagogik studiert und arbeitete
frei für einen Wohlfahrtsverband. Kemper sah heute, daß sie sehr hübsch
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