Frau Schick macht blau
Terrassentreppe bereut Herberger den Entschluss bereits. Ausgerechnet ein Olivenbaum, nein, gleich zwei stehen zu beiden Seiten in einem Kiesbett Spalier.
Der Schmerz über Nellys wort- und umstandslose Trennung macht sich zu einem heimtückischen Spontangriff bereit und Herberger auf dem Absatz kehrt. Das muss er sich nicht antun. Gleichgültig, wie intensiv er sich den Trennungsschmerz auch ausgemalt hat, es gibt Aspekte, die man nicht vorhersehen kann. Vor allem die körperliche Seite der Angelegenheit ist erschreckend lästig.
Übelkeit, Pulsjagen und Gliederzittern könnten auch auf akute Unterzuckerung hindeuten , riskiert seine Vernunft – unterstützt von seinem knurrenden Magen – einen Gegenangriff.
Zum Teufel mit den blöden Bäumen!, gibt Herberger Verstand und Magen recht. Er kehrt zur Treppe zurück, nimmt mit grimmig gesenktem Kopf die Stufen. Oben angekommen hebt er den Blick. Die Terrasse ist leer. Wenigstens das.
Auf einem Tisch stehen lediglich die Reste einer Mahlzeit. Darunter sitzt – nanu! – ein Huhn mit vier Beinen, das Wurstzipfel bewacht.
32.
Ein Musikwecker surrt und brummt in Professor Engels’ Blockhaus. Frau Schick erwacht zum emsigen Violinengesumm von Rimski-Korsakovs Hummelflug . Sinn für Humor hat der Professor also auch.
Nein, was für ein Mann.
Und erst sein Bett!
Es ist – anders als ihr seit gestern sperrmüllreifes Klappsofa – wunderbar breit und rückenschonend konstruiert. Abgesehen von dem Schnarchkonzert neben sich, das die Geigenhummeln momentan gnädig übertönen, hat sie gut geruht. Das war nach den Aufregungen, die hinter und denen, die noch vor ihr liegen, dringend nötig.
Die Hummeln machen Pause, das Schnarchen verebbt, und Frau Schick streckt wohlig ihre Glieder, um sich noch fünf Minütchen Träumerei zu gönnen, bevor ihr umfangreiches Tagwerk beginnt und die Poesie des Herzens sich der Prosa der Vernunft beugen muss. Mit beinahe 78 Jahren und einem gewissen Hang zur Vergesslichkeit sind romantische Reminiszenzen in bequemen Betten zu kostbar, um sie durch jähes Aufstehen zu beenden.
Ach, was für ein Mann, was für ein einzigartiger Mann, Herr Engels – nein Ludwig! – doch ist. Und alles andere als ein feiger Geiselnehmer oder eine Bangbüx. Das hat er gestern unter ihrem Apfelbaum bewiesen. Kaum auszudenken, was ihr ohne sein beherztes Eingreifen hätte zustoßen können! Oder ihm.
Ihr Gedächtnis zündet spontan noch einmal Kalles letzte Feuerwerksrakete, lässt sie durch ihre Gedanken und die Äste ihres Apfelbaums zischen. Früchte prasseln herab, und …
Ein Schnorcheln und Röcheln neben ihr unterbricht den Raketenflug. Himmelherrgottnochmal! Wie kriegt ein einzelner Mensch nur derartige Geräusche mit dem Gaumensegeln und einem Zäpfchen hin? Klingt nach einem Tiefseetaucher, dem die letzten Sauerstoffreserven ausgehen.
Schaudernd zieht sich Frau Schick ihre – nein Ludwigs! – Decke über den Kopf und steckt beide Finger in die Ohren, um das Schnarchen aus ihren seligen Erinnerungen auszusperren. So. Jetzt noch mal ganz von vorn und zurück zu ihrem Held und Lebensretter.
Frau Schick kneift die Augen fest zu, um ja nichts zu verpassen. Der Professor greift noch einmal nach ihrer Hand, umklammert sie mit hartem Griff. Was für ein zupackender Mann! Anders als gestern geht sie willig unter ihrem Apfelbaum zu Boden und kommt – diesmal in Zeitlupe, weil es so schön und viel zu kurz war – an seiner breiten Brust zu liegen. Gott, ist ihr Gedächtnis gut! Wie neugeboren. Sie spürt sogar das Kitzeln seiner Barthaare und rauen Cord an ihrer linken Wange.
Seufzend schmiegt Frau Schick den Kopf in Ludwigs Kissen, macht eine Cordjacke daraus und verweilt über seinem wild schlagenden Herzen. Ihr eigenes nimmt angeregt den Rhythmus auf; währenddessen zündet ihr Gedächtnis Kalles Feuerwerksrakete zum zweiten Mal, jagt sie todesmutig auf ihren Garten zu und lässt sie krachend in ihr Laubenfenster einschlagen. Glas zerbirst, es regnet Scherben. Frau Schick zuckt zusammen. Nur keine Panik, beruhigt sie sich. Nur keine Panik.
Der Professor und ihr Gedächtnis legen schützend den Arm um sie und sie den ihren vertrauensvoll um sein Kissen. Die Umarmung fühlt sich leicht und richtig an, dabei ist es Jahre her, dass sie einen Mann derart innig in die Arme genommen hat oder ein Mann sie. Es war ganz wie im Ringelnatzgedicht vom späten, unverhofften Glück.
Sinnlos, arm erscheint das Leben dir,
Längst zu lang schon ausgedehnt.
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