Frau Schick macht blau
den Hühnerhut. Er ist neben Herbergers Outdoorführer, etwas Geld und Frau Schicks Handy ihr einziges Gepäck. Gehen mit leichtem Gepäck und noch leichterem Herzen tut so unendlich gut. Niklas’ Hutscheusal in ihrer Rechten hat die schlimmsten Sorgen um den Knirps zerstreut und ihre Hoffnung auf ein schnelles Wiedersehen mit Herberger in Gewissheit verwandelt.
Direkt nach ihrem Einstieg in den Jakobsweg hat sie das gefiederte Scheusal in einer Pilgerhütte entdeckt. Neben einem Apfelkitsch, einem Häufchen Bonbonpapier und einem leeren Aluschälchen Hundefutter. Eine Busladung Betriebsausflügler, denen ein Eifelexperte gerade Fides, Spes und Caritas erläuterte, konnte Nelly zudem von einem Wanderer mit Narbenkinn berichten, der knapp eine Stunde vor ihrer Ankunft den Hügel hinabgestürmt ist.
Herberger folgt somit seinen Streckennotizen und Niklas ihm sowie den gelben Muscheln auf blauem Grund, die den Weg kinderleicht beschildern. Zwei, drei Kilometer, vielleicht weniger, dürften sie nach ihren Berechnungen noch von dem kleinen Ausreißer trennen. Von Herberger wahrscheinlich ein paar mehr, aber selbst wenn es zwanzig, dreißig oder fünfzig wären, sie wird ihn schon aufspüren und dann …
Ach, Herberger!
Was auch immer er über sie und ihren unfreiwillige Auftritt in der »Bond Bar« gedacht haben muss, wird sich klären lassen. Genaugenommen sollte ein einziges Wort genügen, um alle dummen Missverständnisse zu beseitigen und sein »Cásate conmigo?« zu beantworten.
Sì!
Nelly lächelt versonnen, ihr Herz jagt ihr voraus und findet einen Weg zu einem nicht näher definierbaren Traualtar, neben dem – so viel ist sicher – Olivenbäumchen stehen werden.
Durch Beckys Beichte hat sie endlich von Herbergers Briefchen erfahren. Kopfschüttelnd passiert Nelly einen Weidezaun. Schönes Früchtchen, ihre Tochter! Lässt einfach Heiratsanträge verschwinden und Olivenbäume verdorren.
Und wie konnte Herberger je an ihrer einzig möglichen Antwort zweifeln? Anstelle von Erklärungen hätte er eigentlich eine Standpauke verdient. Becky hat die ihre bereits in knapper, aber eindeutiger Version erhalten. Das hintertriebene Verhalten ihrer Tochter muss wirklich gründlich korrigiert werden. Beckys Motive entschuldigen zwar einiges und die Tatsache, dass sie Herberger für Javier gehalten hat, woran Nelly nicht ganz unschuldig ist, ebenfalls, trotzdem: Strafe muss sein.
Frau Schick hat – praktisch wie immer – bereits den ausführlichen Einsatz bei der Apfelernte und der Neuanlage ihres Küchenbeetes vorgeschlagen. Becky wollte sich auf ihr Engagement für den Waldfrieden als läuternde Buße herausreden, aber leider deuten ihre bisherigen Rettungsvorschläge für die Kolonie, insbesondere der Kauf von bedrohten Tierarten per Internet und Flashmobs mit tanzenden Feldhamstern, keine positiven Lerneffekte an.
Nun, zumindest stößt sie mit ihrem Intrigeneifer bei Blogger nicht auf Gegenliebe, denkt Nelly. Der junge Mann mit den Stachelbrauen könnte sich noch als hilfreicher Beistand in Erziehungsfragen entpuppen.
Kleine, feuchte Fußstapfen und die Abdrücke von Hundepfoten im staubigen Feldweg reißen Nelly aus ihren pädagogischen Betrachtungen. Sie geht in die Hocke und prüft mit tastenden Fingern, wie feucht die Spuren sind. Sehr feucht, und das trotz kräftigem Sonnenschein. Stalin und Niklas müssen erst kürzlich die Böschung zum Fluss hinab- und mit nassen Füßen wieder heraufgestapft sein. Vielleicht hatte Stalin Durst?
Nelly federt aus der Hocke nach oben, beschattet ihr Gesicht mit dem Hühnerhut und sucht die Landschaft vor sich ab. Eine Wegbiegung und ein Wäldchen behindern knapp fünfhundert Meter vor ihr die freie Sicht auf den weiteren Streckenverlauf. Sie beschleunigt ihren Gang, ruft fragend »Niklas?« und verfällt in Laufschritt.
Minuten später steht sie atemlos unter flirrenden Birken, sucht den Boden nach weiteren Spuren ab. Es finden sich keine. Das Einwickelpapier eines Dextro-Energy-Riegels flattert vor ihre Füße. Nelly holt kurz Luft und rennt weiter. Vorbei an dem Flüsschen, das sie durch Felder und Weiden begleitet hat, hinaus aus dem Wald. Der Weg nimmt eine weitere Biegung, führt auf ein Wegkreuz zu. Darunter steht von Himbeerbüschen überwuchert eine Bank.
Auf der Bank hockt klein und ganz in sich versunken Niklas. Ein tief betrübter, schniefender Niklas, wie Nelly feststellt, als sie nach einem kurzen Sprint bei ihm ankommt. Unter der Bank liegt hechelnd
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