Frau Schick macht blau
Gartenkolonie.
Seine Gedanken hat er seit der Flucht vom Turmhügel auf stures Schrittezählen abkommandiert, damit diese unzuverlässigen Gesellen nicht in der Vergangenheit mit Nelly herumstromern oder in eine düstere Zukunft ohne sie entfliehen. Es erfordert Konzentration und Aufmerksamkeit, jeden Schritt korrekt nachzuhalten, wenn man bei Zahlen im Fünftausenderbereich angelangt ist. Aber es lohnt, wenn die schiere Lust am Wandern partout nicht einsetzen will.
Bei Schritt 5230 gönnt Herberger sich im Schatten eines Birkenwäldchens eine kurze Rast und einen weiteren Powerriegel. Den letzten hat er beim Turm vorhin kaum angebissen, sein Magenknurren ist nicht wegzuzählen. Er nimmt den Rucksack ab, kramt den bescheidenen Proviant hervor.
Die Zweige der Birken heben und senken sich im Wind, vergilbende Blätter flirren im Sonnenlicht. Ein unvermitteltes Zwischenhoch löst sein Stimmungstief ab. Erfreut stellt Herberger fest, dass er nunmehr 5230 Mal einen Fuß vor den nächsten gesetzt hat, ohne an Nelly zu denken. Sehr gut. Endlich kommt er auch innerlich voran.
Nein, doch nicht, ärgert sich Herberger. 5231, verflucht nochmal. 5232. »Jemanden vergessen wollen, heißt, an ihn zu denken«, drängt sich eine abgegriffene Spruchweisheit auf. 5233, 5234 …
Herberger lässt das Birkenwäldchen trotz Powerriegel in eher schleppender Gangart hinter sich, erreicht eine Wegkreuzung. Bei einer Bank vor ausladendem Dornengestrüpp kommt er erneut zum Stillstand.
Auch die verflixte Zählerei hält einen Teil seines Hirns nicht mehr davon ab, die idiotischen Fragen unglückselig Verliebter zu stellen: Wäre es nicht möglich, umzukehren und einen zweiten Versuch mit Nelly zu wagen? Hätte er nicht um sie kämpfen sollen oder zumindest ihrem Exmann, an den er sich auf immer in Clark-Gable-Pose und mit Nelly im Arm erinnern wird, eine reinhauen?
Seine Rechte ballt sich kampflustig zur Faust. Zorn wallt in ihm hoch, eine nie gekannte Mordlust erfüllt ihn – Lust, diesen unerträglichen Schönling zu packen und seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen.
Schluss damit!, ruft Herberger sich zähneknirschend zur Ordnung, du bist keine zwanzig mehr.
Doch leider schmerzt eine Trennung mit 54 Jahren nicht weniger heftig, und das vorübergehende Irresein, das mit jeder Verliebtheit einhergeht, fragt nicht nach dem Alter des Betroffenen. Das Alter macht die Sache sogar schlimmer, denn im Steigflug der Jugend hat seine unbezwingbare Ungeduld, das Abenteuer Leben und die Welt zu entdecken, unter Penelopes Verrat weit weniger gelitten als jetzt.
Mit 54 Jahren weiß Herberger zudem, dass er keinen Kampf um Nelly oder gar mit Jörg Barfeld auszufechten hat, sondern ausschließlich mit sich selbst. Und diesem Kampf um den eigenen Seelenfrieden durch Gewaltmärsche oder Faustkämpfe auszuweichen ist ähnlich aussichtsreich wie eine Flucht vor dem eigenen Schatten.
Ein angenehm kühler Wind streicht vom Fluss herauf. Herberger sinkt erschöpft auf die Bank vor dem Dornengebüsch und beschließt, sich statt aufs Zählen und Marschieren oder sonstige Ablenkungen wieder in Zen zu üben.
Sitzen und atmen und annehmen, was ist. Egal, wie schäbig oder schmerzhaft. Gleichmut üben. Mehr braucht es eigentlich nicht, um in Zukunft klüger mit der verbliebenen Lebenszeit hauszuhalten, das hat er in Kyoto einmal gelernt.
Was klingt wie eine Übung für Idioten, ist höllisch kompliziert, kommt einem Kampfsport mit sich selbst gleich und bedarf beharrlicher Übung. Egal, man kann jederzeit, an jedem Ort und bei jeder Gelegenheit wieder damit anfangen, die Kunst der Gelassenheit einzuüben. Zengeist ist Anfängergeist, und nichts hilft verlässlicher gegen unsinnige Gedankengefechte und alle Anwürfe des Lebens.
Herberger richtet sich entschlossen auf, schließt die Augen, atmet tief aus und wieder ein, wieder aus und wieder ein. Flussluft steigt ihm in die Nase. Von hinten stiehlt sich süßlich herber Brombeergeruch dazu. Halt, nein! Er runzelt die Stirn. So riechen keine Brombeeren, sondern Himbeeren.
Himbeer! Mag ich, wispert es in seinem Kopf.
Herberger öffnet resigniert die Augen und erhebt sich von der Bank, um sich auf die Suche nach einem möglichst geruchsneutralen Platz für seine Atemmeditation zu machen. Niklas besitzt ähnlich wie Nelly geradezu bemerkenswerte Fähigkeiten, ihn von einer Rückkehr zu sich selbst abzubringen. Und vom Jakobsweg, der laut dem windschiefen Wegkreuz links weitergeht.
Nelly schwenkt vergnügt
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