Frau Schick räumt auf
animierte Weltkarte lädt dazu ein, weitere Länder und Orte anzuklicken, über die Herberger alias Gast Bücher und Artikel geschrieben oder Filme gedreht hat. In Asien ist er in den letzten Jahren häufig unterwegs gewesen, aber auch in Afrika, in Kanada und Nordamerika blinken Fähnchen. Nelly macht sich Notizen. Europa ist ein einziges Lichtermeer, und als sie zuletzt Nordspanien anklickt, findet sie unter der Überschrift »Weg im Wandel und in der Wandlung« Dokumente über den Jakobsweg.
Es handelt sich um eine Textsammlung aus diversen Epochen und fremden Federn. Euphorische Lobgesänge aus mehreren Jahrhunderten stehen neben Polemiken gegen den unheiligen Kommerz am Camino, begeisterte Blogeinträge von modernen Pilgern kontrastieren mit abfälligen Bemerkungen über Enttäuschung, Nepp und Bauernfängerei. Einmal wird der Jakobsweg als längste Psycho-Couch der Welt verspottet, ein anderes Mal als Pilgerweg der Seele gefeiert.
Fotos fehlen weitgehend. »Es gibt nicht den einen Camino«, erläutert Herberger das spärliche Bildangebot und seine Textauswahl, »sondern Hunderttausende. Geografisch führt der Weg in Spanien durch abwechslungsreiche Landschaft, für viele Pilger nach innen. Es ist ein Weg der unerwarteten Begegnungen mit sich selbst und mit anderen. Jedem sei selbst überlassen, was er dabei entdeckt und sieht und was er daraus macht. Mit der Feder eines Reisebuchautors wird es kaum zu beschreiben sein.«
Das findet Nelly ziemlich Wischiwaschi und wenig aussagekräftig. Herberger will es sich wohl mit keinem potenziellen Leser verderben.
Eins muss Nelly allerdings zugeben: Der Mann kennt sich aus. Seine Homepage ist ein Fest für die Augen, und dass sie tatsächlich von Herberger, nein Gast, »geboren in Karlsruhe, wohnhaft in Köln, meist unterwegs«, stammt, beweist sein Autorenporträt im Impressum. Nelly studiert es kurz. Ja, das ist unverkennbar Herberger/Gast: Zu dem rastlos Reisenden passt das hässliche Narbenkinn nicht schlecht. Ob er mal Bekanntschaft mit einem bissigen Krokodil gemacht hat?
Sie überfliegt, was sie sich notiert hat. Viel ist es nicht. Neben Reisedaten liest sie »Fingertier«, »Opernhaus« und »Caruso«. Warum hat sie das denn aufgeschrieben? Sie seufzt, zu viele Bilder machen leider süchtig und wirr im Kopf. Außerdem wird im Kabuff langsam die Luft stickig.
Nelly öffnet die gepolsterte Tür einen Spalt weit, zieht eine Sandale aus und schiebt sie als Türstopper dazwischen. Aus dem Foyer strömt klimatisierte Luft ein. Sie reckt sich, gähnt und lässt den Bildschirm schwarz werden. Sie will gerade die Internetverbindung kappen, als Stimmen an ihr Ohr dringen. Spanische Stimmen. Nein, stimmt nicht, das können keine waschechten Spanier sein, denn die Männer flüstern, statt sich lauthals zu unterhalten. Wer könnte das sein?
Einen Augenblick später erkennt Nelly, dass es sich um Herberger und Paolo handelt.
»Gib mir eine letzte Chance«, bittet ihr Überwachungsobjekt Herberger eindringlich und dankenswerterweise in kastilischem Spanisch, das Nelly ohne Probleme versteht.
»Ich wüsste nicht, wozu«, zischt Paolo.
»Vielleicht, weil wir mehr gemeinsam haben, als du denkst?«
Paolo stößt einen abwehrenden Laut aus. »Ich bin kein Mörder.«
»Paolo, die Sache in Australien damals ist so schiefgegangen, wie etwas nur schiefgehen kann … Coober Pedy ist ein Rattennest … Wir waren betrunken, sturzbesoffen, um genau zu sein … und zu leichtsinnig.«
Nelly hält den Atem an und schreibt eifrig mit.
»Tödlich leichtsinnig!«, zischt Paolo.
»Ja.« Herberger kämpft um seine Chance. »Ich habe für meinen Fehler mit mehr als nur ein paar Monaten Haft gebüßt, Paolo.«
»Gefängnis«, notiert Nelly und macht drei Ausrufungszeichen.
»Gebüßt«, stößt Paolo derweil mit kaum verhaltenem Zorn hervor. »Ich denke, du hattest keine Schuld und sie haben dich freigesprochen? Du hattest ja nie an irgendetwas Schuld, oder ist das auch wieder eine von deinen ungezählten Lügen?«
»Schuld haben und sich schuldig fühlen sind zwei verschiedene Paar Stiefel«, entgegnet Herberger hitzig. »Und dich habe ich nur einmal belogen, ein einziges Mal. Um dich zu schützen.«
Gott, wird der jetzt melodramatisch!, denkt Nelly und lehnt sich auf ihrem Samtbänkchen ein bisschen mehr zur Tür.
Herberger ist noch nicht fertig. »Einem Gefängnis kann man entkommen, Paolo, seinen Gefühlen nicht.«
»Gefühle, du? Für wen denn das? Vor Gefühlen bist du doch
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