Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frau Schick räumt auf

Frau Schick räumt auf

Titel: Frau Schick räumt auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Jacobi
Vom Netzwerk:
Thekla vor acht Wochen gestorben und hat Frau Schicks Seelenruhe und einen halbwegs anständigen Schlaf mit ins Grab gerissen.
    Seither brütet die Dunkelheit in den Zimmerritzen, als spiele sie mit dem Gedanken, eine feste Form anzunehmen und in Frau Schicks abgelegter Kleidung Gespenst zu spielen. Ganz ruhig liegt Frau Schick dann gewöhnlich da und wartet ab, bis dieses Schweben zwischen Traum und Wirklichkeit vergeht. Sie vermeidet es, in sich hineinzuhören und die Geister der Vergangenheit zu ermuntern, sich aus den Geheimarchiven ihrer Seele hochzustehlen. Die Gegenwart war immer ihre beste Freundin. Das Jetzt und Hier. Alles andere beunruhigt sie.
    Sie träumt intensiv – das ist angeblich Teil der Nebenwirkungen eines Medikaments, das sie nimmt, weil ihr Herz seit Theklas Tod manchmal vergisst zu schlagen. So jedenfalls steht es auf dem Beipackzettel. Der Preis, den sie für ein langes Leben zahlt, wird eben mit jedem Jahr höher.
    Doch an diesem Morgen ist das Dunkel weniger bedrohlich als sonst, nicht ganz so trostlos finster. Warum?
    Vielleicht, weil die Vögel von Burguete lauter singen oder klingen als zuhause in Köln. Ja, das muss es sein. Mit einem wohligen Seufzer begrüßt Frau Schick den Beginn des Morgenkonzerts. Ein Rotschwanz eröffnet mit seinem melodiösen, leicht schwermütigen Reviergesang. Zwitschernd stimmen Rotkehlchen ein, es folgen das inbrünstige Flöten der Amseln und die Arien des Zaunkönigs. Dann endlich setzt das Schmettern und Schimpfen der Finken ein. Frau Schicks Mund entspannt sich zum Lächeln, der Nacht verbleiben nur noch wenige Minuten.
    Und richtig, vor dem Fenster hebt sich das Dunkel wie ein Samtvorhang. Das flammende Rot der Geranien, deren Köpfe in den Blumenkästen vor den Fenstern wippen, schält sich aus der Dämmerung. Zufrieden konstatiert Frau Schick, dass Schopenhauer einmal wieder recht hat: »Jeder Tag ist ein eigenes Leben, jedes Aufstehen eine kleine Geburt.« Das gilt selbst in ihrem Alter. Schön ist das – genau wie der Geruch von Kuhmist und Schafskötteln, der ins Zimmer weht.
    Die Möbel nehmen sichere Konturen an: Der Stuhl wird zum Stuhl, der Tisch zum Tisch. So soll es sein. Frau Schick schließt die Augen und atmet ländlichen Frieden. Auch das Krähen des Hahns bringt das Pyrenäendorf nicht aus der Ruhe.
    Für eine winzige Sekunde ist Frau Schick wieder auf Gut Pöhlwitz, liegt unter einem weißen Federbett in einem blanken Messingbett. So wie hier. Ihr Kinderzimmer lag in einem Nebenflügel und ging auf die Stallungen hinaus. Das Schnauben der Trakehner Pferde, das ferne Muhen melkbereiter Kühe und leiser Jauchegeruch waren ihr vertrauter Morgengruß.
    Frau Schick lächelt schmerzlich und hält die Erinnerung dennoch einen Augenblick fest. Wenn solche Bilder aufsteigen, lässt man ihnen am besten freien Lauf, dann ist die Sehnsucht schnell ausgestanden. Was sie quält, ist nicht die Sehnsucht nach der Vergangenheit, sondern die nach ihrer viel zu kurzen Kindheit und der Landschaft unter weitem Himmel in Preußischblau. Jede Erinnerung daran ist kostbar und wie mit Edelsteinen besetzt. Bisweilen kommen die Bilder sogar ans Laufen, und lang vergessene Gestalten beleben die Szenerie.
    Die alte, die herzliebe Schemutat macht sich mit klappernden Blecheimern und auf Pantinen, einen Schemel unter die Achsel geklemmt, auf den Weg, um warme Milch zu melken, für die »Kingers«, wie das in Ostpreußen hieß. Sie hat es sich nicht nehmen lassen, Klein-Röschen zu bemuttern und zu betüddeln, obwohl der reguläre Melkbetrieb natürlich von einer Mägdeschar erledigt wurde. Das halbe Dorf hatte Arbeit auf Gut Pöhlwitz.
    Das Scheppern der Blecheimer hat die Schemutat mit ebenso krummem wie lautem Summen untermalt. Was war nochmal ihr Lieblingslied?
    Frau Schick überlegt einen Moment, dann stimmt sie heiser eine Melodie an. Der Text folgt ganz von selbst, wie das so ist mit Erinnerungen aus Kindertagen, in denen noch viel unbewohnter Raum im Kopf ist und sich ein Gedicht ohne mühseliges Memorieren einprägt.
    Befiehl du deine Wege
    Und was dein Herze kränkt,
    Der allertreusten Pflege
    Des, der den Himmel lenkt!
    Der Wolken, Luft und Winden
    Gibt Wege, Lauf und Bahn,
    Der wird auch Wege finden,
    Da dein Fuß gehen kann.
    Das wird ja immer schöner! Frau Schick wundert sich über sich selbst. Kaum wandert sie ein paar Hundert Meter Jakobsweg, singt sie morgens im Bett Kirchenlieder.
    Das kann jedoch auch an ihrem gestern Abend gefassten Plan liegen.

Weitere Kostenlose Bücher