Frau Schick räumt auf
wirklich aus wie Jesus beim letzten Abendmahl. Der Busfahrer, ein gemütlicher Kraftkerl, hat mit seinem veritablen Bariton später noch Volkslieder gesungen und damit seine Trinkgeldkasse aufgefüllt. Ganz schön gewitzt! So was mag sie ja.
Herberger hat dazu auf dem Klavier gespielt, Paolo auf einer gellenden Flöte improvisiert. Erstaunlich, wie viel Lärm drei Musiker machen können. Der Herberger hat Jesus dabei kaum aus den Augen gelassen, und zwar nicht, um die Flötentöne aufzunehmen und in Tastenakkorde zu übersetzen. Nein, es sah eher aus, als läge er auf der Lauer. Seltsam.
Bettina hat sich ganz eng ans Piano gepresst und verzückt geguckt, und Hildegard hat um eine Übersetzung der Liedtexte gebeten. Weil es in den meisten um Esel, Ochsen und die Ehe als Joch und Knechtschaft ging, hat sie mit Vorträgen über die größere Finesse kubanischer Volksmusik gegen das fröhliche Lärmen angehalten und lautstark ihren Nachtisch verlangt, als keiner hinhörte. Auch Ernst-Theodor nicht, der nach reichlichem Rotweingenuss den Takt mitgeklatscht hat – oder das, was er dafür hielt.
Hermann und Martha haben das einzig Richtige getan: eine Runde schleifenden Ländler aufs Parkett gelegt, freundlich Danke gesagt, und dann sind sie schlafen gegangen. Punkt zehn und Hand in Hand. So kann lebenslanges Eheglück auch aussehen.
Der Busfahrer hat dann höflich um den Vortrag von deutschem Liedgut gebeten.
»Das kann man doch alles nicht singen«, hat Hildegard protestiert.
Ernst-Theodor hat trotzdem Mein kleiner grüner Kaktus zum Vortrag gebracht, und Bettina und Frau Schick haben beim »Hollari, hollari, hollaro« einfach mal miteingestimmt. Frau Schick ist bis kurz nach Mitternacht geblieben, wegen der Nachtgespenster.
Der Hahn kräht eine weitere Koloratur. Jetzt wird es aber wirklich Zeit. Frau Schick stakst zur Tür, wo sie mit genauem Kalkül die Wanderstöcke platziert hat, um sie nicht zu verbumfiedeln, wie es in Ostpreußen hieß. In Köln sagt man verklüngeln. Beides sind sehr hübsche Umschreibungen für ein unschönes Problem: ihre zunehmende Vergesslichkeit in Alltagsdingen. Nun, sie weiß sich zu helfen.
Jetzt aber los! Sie holt tief Luft und öffnet leise die schwere Holztür. Als sie den Kopf in den Gang steckt, schaltet sich mit einem Klack das Flurlicht ein und flutet den Korridor mit kaltem Kunstlicht.
Dämliche Bewegungsmelder! Frau Schick fühlt sich regelrecht ertappt. Sie linst den schmalen Flur auf und ab. Niemand da. Von links dringt lautes Schnarchen an ihr Ohr. Das ist der transzendentale Ernst-Theodor, unterstützt von Hildegards wimmernd flatternden Gaumensegeln. Musikalisch sind beide nicht.
Rechter Hand nächtigt Bettina, geräuschlos. Dafür hat sie gestern noch für reichlich Aufruhr gesorgt. Lange und umständlich hat sie mit den bodentiefen Läden ihres Fensters rumgepoltert. Schließlich hat sie Herberger zu Hilfe gerufen, der auf der Straße vor dem Hotel eine Zigarette rauchte. Ganz Kavalier hat der Doktor die Läden dann für Bettina geschlossen und ist zu Bett gegangen. Allein und genau gegenüber von ihrem Zimmer.
Sie tritt in den Gang. Klack!, geht das Licht wieder aus. Verfluchter Bewegungsmelder! Sie tritt vor und auf einen harten Gegenstand. Klack!, geht das Licht wieder an, und als Frau Schick den Fuß hebt, entdeckt sie eine in Zellophan gewickelte Kugel mit einem Ringelschwanz aus Geschenkband vor ihrer Zimmertür. Hoppla, was ist das? Ein Schokoladentrüffel?
Nein, die Kugel hat eher die Farbe von Waldmeister- oder Pistazieneis.
Frau Schick runzelt die Stirn. Gratis-Pralinen gehören doch eigentlich aufs Kopfkissen. Sie geht langsam in die Hocke und hebt die Kugel auf. Schokolade ist das nicht, sondern ein polierter Stein. Wenn sie da drauf gebissen hätte! Der Stein sieht aus wie ein großer Kinderknicker. Wer verehrt ihr denn so was?
Kopfschüttelnd lässt Frau Schick den Stein in eine ihrer Hosentaschen gleiten. Und jetzt Abmarsch, vorbei am Zimmer ihres selig schlummernden Chauffeurs und dann … Halt, stopp! Der ist ja wach! Sie hört ihn flüstern. Doch nicht etwa mit Bettina?
Frau Schick legt ein Ohr an die Tür. Das Flüstern dringt hohl, aber deutlich durchs Holz.
»Wie soll das jetzt weitergehen? Ich habe mit einer derart unverhofften Begegnung nicht gerechnet. Das … Das wirft alles durcheinander.«
Pause.
»Egal, wie ich mich freue. So Hals über Kopf, das liegt mir einfach nicht. Ich hätte eine behutsamere Annäherung vorgezogen.«
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