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Frau Schick räumt auf

Frau Schick räumt auf

Titel: Frau Schick räumt auf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ellen Jacobi
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Frau Schick öffnet die Augen und tastet auf dem Nachttisch nach ihrem Reisewecker. Viertel vor sechs! Zeit, ihren Plan in die Tat umzusetzen, bevor der Rest der Pilgerbande wach wird.
    Sie unterdrückt wie jeden Morgen ein leises Stöhnen, während sie ihre müden Knochen so sortiert, dass sie halbwegs schmerzfrei aufstehen kann. Gut, so weit ist wieder alles am Platz und funktionstüchtig.
    »Jetzt auf die Seite rollen«, kommandiert sie sich murmelnd. »Rücken langsam dehnen, Beine leicht anziehen, behutsam hochkommen, Beine über den Bettrand schieben. So!« Die Horizontale wäre einmal wieder erfolgreich überwunden. Sie räkelt sich im Sitzen, gähnt und fischt ihr Gebiss aus dem Glas.
    Heute setzt Frau Schick nicht nur die künstlichen Zähne ein, sondern auch die Brille auf. Sicher ist sicher. Der dunkle Hohlweg gestern hat ihr gereicht. Frau Schick erhebt sich und tappt auf Bettsocken zum Badezimmer. Die Holzdielen knarzen vernehmlich. Verflixt, sie möchte auf keinen Fall jemanden wecken.
    Zügig, aber ohne Hast erledigt sie die Morgenwäsche, geht zu dem Stuhl, auf dem ihre Wanderkluft für den heutigen Tag in strategischer Reihenfolge parat liegt: Miederhöschen, BH, Rheumagürtel und Hemd zuoberst, es folgen Venenstrümpfe, dann die Wandersocken. Zum Schluss noch die Hose.
    Die größte Herausforderung sind die Wanderschuhe. Richtige Klötze, die sie im Sitzen überstreifen und schnüren muss. Das dauert mit steifem Rücken und arthritisch versteiften Fingern. Wirklich lästig, dass einen der Körper mit den Jahren zunehmend im Stich lässt!
    Ächzend bringt Frau Schick das Schuhanziehen hinter sich und freut sich schließlich, wie gut diese Schuhe sitzen. Nur einen Gang auf leisen Sohlen gestatten sie nicht. So tappt sie in Zeitlupe über die knarzenden Dielen zum Bett. Hebt die Füße absurd hoch und setzt sie mit Bedacht wieder auf. Frau Schick kichert. Sie fühlt sich wie ein Kind, das bei Nacht den Schrank mit den Weihnachtsgaben erkunden will.
    Am Bett schüttelt sie Kissen und Federbett auf. Ordnung muss sein, das verlangt die Preußin in ihr. Soll keiner meinen, sie habe als Junkers- und Offizierstochter je rumgefaulenzt oder Prinzessin auf der Erbse gespielt. Das wäre gegen die Ehre gewesen. Sie streicht, nein streichelt die Tagesdecke glatt. Weiße gehäkelte Filetspitze. Eine ähnliche hatte sie auf Pöhlwitz. Die Schemutat wird sie gehäkelt haben, in der Gesindeküche, bei blakendem Petroleumlicht, und dabei Lutherpsalmen gesungen haben. Gelegentlich hat sie auch einen Schluck von ihrem Herzmittel genommen, das sie an jedem Geburtstag von Röschens Papa bekam. Es stand auf der Anrichte und hieß »Danziger Goldwasser«. In ihm schwamm echter Blattgoldflitter. Frau Schick, damals Röschen, hat die Flasche gern geschüttelt und den Inhalt für einen Zaubertrank gehalten. Das war er ja wohl auch.
    Nach zwei, drei Schlucken hat die Schemutat immer Feen- und Gespenstergeschichten erzählt, bis den Kindern die Zähne und Knochen klapperten. Das war noch viel schöner als die Lutherpsalmen.
    Frau Schick lässt den Blick durch ihr Zimmer schweifen: eine antike Kommode mit Waschkrug, der als Vase für Feldblumen dient, ein seit Generationen mit Bienenwachs polierter Stuhl, ein alterskrummer Schrank mit Klappertüren. Wie angenehm es doch ist, in einem Zimmer zu nächtigen, das in Würde altern durfte und mehr Jahre auf dem Buckel hat als man selbst. Es hat nichts von seinem Charme eingebüßt.
    Anders als sie.
    Hach, na ja … Es tut ihr wirklich leid, dass sie Bettina gestern so angerumpelt hat. Die kann ja nichts dafür, dass sie so blauäugig ist, wie Thekla es war. Aber eine schwer zu ertragende Transuse ist sie doch und so neugierig. Gewissermaßen zum Ausgleich war Frau Schick zu Herberger gestern gleich doppelt freundlich. Als sie im Gasthof ankam, hat der Doktor im Speiseraum am Klavier gesessen und Mendelssohn-Bartholdy gespielt. Lieder ohne Worte. Schwebende Töne, die sich molto andante – also langsam schreitend – von milder Schwermut auf eine unbestimmte Hoffnung zutasten. Sehr tröstlich und versöhnlich. Früher einmal hat der Mendelssohn Frau Schick zu Tränen gerührt.
    Hunger hatte der Doktor anscheinend nicht, jedenfalls nicht auf die Bohnensuppe, die Forelle mit Schinken und das warme Brot, das der Rest der Gruppe unter Paolos Vorsitz an einem langen Tisch verzehrt hat. Die Forelle war gut und der Wein mild. Paolo saß neben dem Busfahrer am Kopfende des Tisches und sah

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