Frau Schick räumt auf
Himmelsthron geschubst hat und die sich und ihren Jesus stolz der Welt präsentiert. Beide tragen goldene Kronen – sie eine große, er eine kleine. Die Dorfbewohner oder der Hospitalero, der die Kapelle gerade für eine Hochzeit am nächsten Morgen durchgewischt hat, haben Maria Kornähren in die rechte Hand gesteckt. Davon abgesehen hat diese Madonna beide Hände frei und ist nicht vollauf mit Stillen, überfließender Mutterliebe oder rührseliger Anbetung eines Säuglings beschäftigt. Der kommende König der Könige thront dennoch sicher, geborgen und frei zugleich in ihrem Schoß. Beide eint ein gelassener Blick auf die Welt. Sie wirken nicht, als wollten sie bestaunt werden, und regen genau deshalb dazu an. Das Kind hat so weise wie verwunderte Augen, die etwas sehen, was dem Rest der Welt verborgen ist.
Ein wenig hat Becky auch so ausgeschaut, als sie direkt nach der Geburt auf Nellys Bauch gelegen hat: erstaunt und allwissend zugleich, als käme sie wie alle Neugeborenen von weither zu Besuch und trüge alle Weisheit in sich.
Eine Liedzeile von André Heller flirrt durch Nellys Gedanken: »Du bist ja die weise Seele, die noch halb im Drüben wohnt. Lehre du mich, welche Wünsche es zu wünschen wirklich lohnt.« Nelly hat nach der Geburt vor Erschöpfung und überströmenden Gefühlen geweint und genau das gedacht: Was soll ich diesem Wunderwesen denn noch beibringen, ohne es zu beschädigen? Es ahnt und fühlt doch schon alles, und ich kann nicht einmal Windeln wechseln.
Nellys Gedanken verweilen bei Becky und machen sie rührselig. Hat ihre Tochter sich je wirklich so ganz und gar geborgen und aufgehoben bei ihr gefühlt, wie sie sich und ihr das gewünscht hat? Wo hat sie es als Mutter mit den Liebesbezeugungen übertrieben, wo hat sie sie versäumt oder nur geheuchelt? Die sparsame Gestik und Gestaltung der Madonna sprechen in Nellys Augen von einer Liebe, die das rechte Maß kennt und bereit ist loszulassen. Jederzeit.
Hat Becky verstanden, warum sie Jörg verlassen musste? Oder war Becky ihr ganzes Kinderleben lang allein mit der Angst, dass Liebe vergehen kann, sich in Luft auflösen und vielleicht nur Lug und Trug ist? Becky hat nie eine Familie gehabt, und Nelly wird nie mehr eine gründen können. So viel Endgültigkeit schmerzt, auch wenn sie sich das so klar noch nie eingestanden hat.
Nelly schüttelt erbost über sich selbst den Kopf. Hat sie jetzt einen Dachschaden?
Die Madonna stört sich nicht an Nellys stummer Selbstanklage, sondern schaut weiter gelassen in unbestimmte Ferne.
Nun, tröstet sich Nelly, die Muttergottes von Eunate wird in den letzten neunhundert Jahren eine Menge und weit Schlimmeres zu hören bekommen haben. Geschichten von größerem Kummer als ihrem, vom Sterben, vom Tod. Diese Madonna sieht aus, als habe sie die Nöte der Menschen verstanden, noch bevor es überhaupt gedacht oder gesagt wurde.
Wie ertappt dreht Nelly sich um. Hoffentlich kann niemand ihre Gedanken belauschen. Das wäre mehr als peinlich. Tatsächlich hat Ernst-Theodor sich in der Bank hinter ihr niedergelassen. Er seufzt. »Schön, nicht wahr?«
Nelly nickt zaghaft. Noch schöner wäre es, wenn er jetzt schweigen würde.
Das jedoch fällt Ernst-Theodor offensichtlich schwer. »Nur schade, dass das Licht so bescheiden ist«, redet er weiter, »da bekommt man keine Aufnahme hin. Dabei sammele ich frühe Sitzmadonnen. Ein spannendes Forschungsthema.«
Nelly rutscht unruhig auf der Holzbank hin und her. Sie ahnt, dass jetzt ein Vortrag folgt. Und tatsächlich beugt sich Ernst-Theodor flüsternd vor. »Sie kennen sicher die hochinteressante Diskussion darüber, ob die romanischen Sitzmarien und die berühmten schwarzen Madonnen in Wahrheit christianisierte Umformungen heidnischer Erd- und Fruchtbarkeitsgöttinnen sind, etwa von Kybele, Astarte oder Gaia, der Mutter aller olympischen Götter.«
»Das hat der Kirche ja nie gepasst, dass Frauen auch was zu sagen haben und sogar als Göttinnen verehrt wurden!«, ergänzt Hildegard energisch. Wie immer ist sie ihrem Ernst-Theodor nicht von der Seite gewichen.
»Noch 1514 mussten in Frankreich Marienstatuen aus Kirchen entfernt werden, die einige Frauen als Isis oder gar als Aphrodite anbeteten«, ereifert sich der.
»Als Göttinnen der Liebe!« Hildegards Stimme dringt schrill durch den Kirchenraum.
Ernst-Theodor stört das nicht. »Einige frühe Madonnen wurden nachträglich vergoldet, um sie von aller erdhaften Sinnlichkeit zu befreien, ihr Busen
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