Frau zu sein bedarf es wenig: Roman (German Edition)
Herodes hörte, erschrak er und mit ihm das ganze Jerusalem« passierte ihm kein Unglück.
Normalerweise hört sich die Stelle so an: »Da das der König Herodes hörte, er-kiekst er und mit ihm das ganze Jerusalem.«
Dann kichert die Altistin, und der Chor freuet sich.
Am nächsten Tag wurde es wieder ernst.
Der gesamte Chor, das Orchester und die Solisten wurden über achtzig Kilometer weit gefahren, um in der Kathedrale von Montcluton zu konzertieren. Da ich ja ein Baby und noch weiteren Anhang bei mir hatte, wurde mir nahegelegt, lieber meinen Privatwagen benutzen zu wollen.
Das wollte ich in der Tat, denn Sascha im Bus wäre das Ende meiner Konzertkarriere gewesen.
Ich verkündete also nach dem Frühstück meinen Leuten den Tagesplan:
Abfahrt gegen 16 Uhr, Ankunft in Montcluton wahrscheinlich gegen 17 Uhr 30, dann Stillen, Einsingen und das übliche Gedöns, Stellprobe, Stillen, Konzert, Stillen, Rückfahrt. Wenn das nicht ein ausgefüllter Tagesplan war!
Gegen Mitternacht würden wir wieder im Chalet sein. Sascha sollte schon mal vorschlafen und sich auch für das Auto eine warme Decke mitnehmen.
Frau Schmalz-Stange sollte bitte Spielsachen für Sascha einpacken, schlug ich vor, vielleicht auch die Benjamin-Blümchen-Kassetten und natürlich jede Menge Punica-Oasen.
Während ich das alles organisierte, wurde mir klar, dass nicht sie für mein Kind, sondern ich für ihr Kind mitdachte. Ich ärgerte mich.
»Ansonsten wissen Sie ja Bescheid«, sagte ich. »Abfahrt bitte Punkt vier!«
Darauf zog ich mich zurück, um mich einzusingen. Heute gab es die Teile 1-3, 5 und 6. Das ist verdolmetscht: Die Altistin hat volles Programm.
Um halb vier machte ich Paulchen fertig. Zwar wäre das die Aufgabe von Frau Schmalz-Stange gewesen, aber ich wollte sie nicht stören. Sie war gerade mit Sascha in ihrem Zimmer. Also machte ich Paulchen schon mal den Popo sauber, zog ihn komplett um und legte seine warmen Sachen zurecht. Dabei versuchte ich, meine schwarze Seidenbluse nicht unnötig zu beschmutzen.
Um Viertel vor vier packte ich die Wickeltasche, kochte Tee ab, klappte den Kinderwagen zusammen, hob Paulchen in seinen Babysitz und schnallte ihn an.
Dann holte ich meinen Konzertkoffer und stieg ins Auto. Es war Punkt vier.
Von Familie Schmalz-Stange keine Spur.
Ob ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt hatte? Es war doch von sechzehn Uhr die Rede gewesen! Frau Schmalz-Stange hatte doch den ganzen Tag Zeit für ihre Vorbereitungen gehabt! Ungeduldig und nervös zwang ich mich, genau fünf Minuten im Auto sitzen zu bleiben. Dann stieg ich aus und ging wieder ins Haus.
Nichts.
»Hallo?!? Frau Schmalz-Stange?!«
Die Schlafzimmertür ging auf, und Frau Schmalz-Stange erschien. Sie war noch nicht umgezogen, hatte Pantoffeln und einen Hausanzug an.
Mir blieb die Spucke weg. »Hatten wir nicht vier Uhr gesagt?«
»Ja, schon, aber …«
»Was, aber?« In mir machte sich Panik breit. Die Unternehmung, die wir noch vor uns hatten, war ja kein Klacks! Ich sollte in vier Stunden vor fünfhundert Leuten singen! Und diese Frau stand hier entgegen jeder Vereinbarung in Pantoffeln!
»Sascha mag nicht.«
»WA A AS?«
»Sascha hat keine Lust!«
Ich war völlig sprachlos. Sascha hatte keine Lust. Ich saß gestiefelt und gespornt und eingesungen und geschminkt im Auto, mitsamt Baby, das ich auch komplett angezogen hatte, und Sascha hatte keine Lust.
»Ich hab’ auch schon versucht, mit ihm zu reden, aber er sagt, er hat Bauchweh!«, sagte Frau Schmalz-Stange.
»So, hat er«, sagte ich und sank auf eine Kommode.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich. Blitzschnell gingen mir verschiedene Lösungsmöglichkeiten durch den Kopf:
Ins Schmalz-Stangesche Schlafzimmer einbrechen, Sascha vertrimmen, fesseln, knebeln und ins Auto schmeißen. Das hätte eventuell die Stimmung des weiteren Abends ein wenig getrübt.
Sascha hierlassen. Vielleicht gab es irgendwo eine französische Nachbarin, die gern mit verwöhnten kleinen Ausländerkindern spielte. Doch eine solche aufzutreiben und Sascha mitsamt Benjamin-Blümchen-Kassetten zu ihr hinüberzubringen, hätte vermutlich meinen Zeitplan unwesentlich durcheinandergebracht …
Herr, hilf, so lass mich Hülfe sehn!
»Ich glaube, wir müssen hierbleiben«, sagte Frau Schmalz-Stange kreativ.
»Wer, WIR?«, fragte ich zurück. Wenn sie gesagt hätte: »Ich glaube, das Konzert muss ausfallen«, hätte mich das auch nicht mehr gewundert.
»Sascha und ich«, sagte sie.
»Und
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