Frauen lügen
in die schmale Straße einzubiegen, die zum Dorfteich führt. Normalerweise ist hier um diese Zeit wenig los. Es ist zu spät für die tägliche Karawane der Strandheimkehrer und zu früh für die Nachtschwärmer, die auf der Suche nach Vergnügen, Alkohol und Abwechslung ihre Wohnungen verlassen. Doch trotz der ruhigen Stunde ist die Gasse voller Menschen. Und quer vor dem Apartmenthaus, in dem Fred wohnt, steht ein Streifenwagen und versperrt die Zufahrt. Der Wagen ist leer, es sind auch keine Polizisten zu sehen, nur diese Meute neugieriger Nachbarn und Touristen, deren Blicke auf das andere Ende der Straße gerichtet sind. Dort versucht ein Krankenwagen vergeblich, an einigen allzu sperrig geparkten Autos vorbeizukommen. Als dessen Fahrer die Nutzlosigkeit seiner Bemühungen einsieht und wendet, um vom anderen Ende der Straße her vorzufahren, springt Fred vom Fahrrad und sprintet los. Es ist ein Reflex, vermutlich ausgelöst von der vorbeihuschenden Silhouette eines Uniformierten, die er hinter einem seiner Fenster zu erkennen glaubt. Unbehelligt gelangt Fred zur Rückseite des Hauses, wo das Grundstück an den Dorfteich grenzt und hoffentlich Sanne mit ihrem Apéro im Strandkorb sitzen wird. Sie hat es an jedem der beiden letzten Abende so gehalten. Doch heute ist der Korb leer. Nur auf dem Klapptisch steht ein halb gefülltes Campariglas, in dem die Eiswürfel bereits geschmolzen sind. Die Terrassentür steht sperrangelweit offen.
Vielleicht ist Sanne unaufmerksam gewesen und ins Haus gegangen, ohne die Tür zu schließen. Die Anonymität von Freds Wohnung begeistert sie von Tag zu Tag mehr. Sie genießt es unendlich, sich hier ungestört und unbeobachtet bewegen zu können. Vielleicht war sie allzu unvorsichtig, ein Gelegenheitsdieb ist eingedrungen und von ihr auf frischer Tat ertappt worden. Das könnte die Anwesenheit der Polizei erklären. Vielleicht. Aber warum dann der Krankenwagen? Und wo ist Sanne jetzt? Was ist wirklich geschehen?
Fred läuft ins Haus. Die Wohnküche ist ebenfalls leer. Doch auf der Treppe wird Fred von einem Polizisten aufgehalten.
»Hier geht’s nicht durch. Was wollen Sie überhaupt hier?«, fährt dieser ihn in barschem Ton an.
»Das ist meine Wohnung, lassen Sie mich vorbei.«
Fred weiß, jetzt muss es schnell gehen. Er zieht den Kopf ein und nimmt die Schultern nach oben. Rammbock-Position nennt er diese Haltung insgeheim, ein ehemaliger Boxer hat sie ihm vor Jahren gezeigt. Als Fred mit dem Kopf zustößt, taumelt der Beamte und greift sich an die Brust. Fred nutzt den Moment seiner Unaufmerksamkeit und stürmt die Treppe nach oben. Die Tür zum Schlafzimmer steht weit offen. Im Raum befinden sich drei Polizisten, doch keiner von ihnen bemerkt Freds Erscheinen, denn alle Blicke sind auf das breite Futonbett gerichtet.
Fred folgt ihren Blicken und bleibt wie erstarrt stehen. Zu furchtbar ist das, was er dort sieht.
Freitag, 19 . August, 18.53 Uhr,
Campingplatz Wenningstedt
Ganz ruhig muss ich gehen. Langsam, langsam. Ich sehe höchstens beiläufig nach links und rechts. Ich mache meinen Feierabendspaziergang. Ich weiß nichts, rein gar nichts von all dem Blut dort drüben in der Maisonettewohnung. Das zerschossene Gesicht habe ich nie gesehen. Ich habe das Röcheln der Sterbenden nicht gehört und auf die Polizeisirenen nicht geachtet. Ich mache nur meinen Feierabendspaziergang. Ich bin ganz in Gedanken, beschäftige mich mit geschäftlichen Problemen, obwohl ich doch weiß, dass nichts besser wird, wenn man nach dem Job nicht auch mal abschalten kann. Ich halte den Kopf gesenkt und gehe mit gleichmäßigen Schritten meines Weges. Ich lasse die Zelte und Wohnwagen hinter mir und wähle den Pfad durch Heide und Dünen, der zum Meer führt. Zunächst wird man ja wohl die Straßen absuchen und keine Beamten zu Fuß zum Strand schicken. Ein Mörder flieht schnell und geht nicht im Umkreis des Tatorts spazieren. Aber jetzt, wo die Sonne endlich die Wolkendecke durchbrochen hat, kann ich mich doch ein wenig an dem hellen Abendlicht freuen. Mein Tag war erfolgreich, und so wie’s aussieht, wird ein fulminanter Sonnenuntergang ihn krönen.
Freitag, 19 . August, 18.53 Uhr,
Kriminalkommissariat Westerland
»Silja! Bastian! – Silja, Bastian, seid ihr noch da?«
Sven Winterberg steht am Kopf der Treppe des Polizeigebäudes und ruft hinunter ins Erdgeschoss. Die Antwort kommt aus der bereits geöffneten Eingangstür.
»Eigentlich nicht mehr. Wir wollen noch zum
Weitere Kostenlose Bücher