Frauen lügen
Ampel gerade rot geworden ist, fegt Bastian als Letzter über die Kreuzung. Von der Umgehungsstraße kommend biegt er nach Osten auf die Keitumer Landstraße ab. Zwischen ihm und dem Porsche ist zwar kein weiterer Wagen, aber immer noch eine Distanz von etlichen hundert Metern. Der Motor des cremefarbenen Autos, das er in einer rasenden Jagd von Wenningstedt bis nach Westerland verfolgt hat, muss sich in exzellentem Zustand befinden, und seine Fahrerin scheint durchaus Spaß an der Geschwindigkeit zu haben. Bastians sparsam motorisierter Audi ist fast an seinem Leistungslimit angekommen, mehr als 190 Stundenkilometer sind nicht drin. Der alte Porsche scheint das locker zu schaffen. Bastian überlegt ernsthaft, ob Antonia Dornfeldt nicht möglicherweise noch schneller fahren und ihm tatsächlich entkommen könnte –, wenn sie es denn wollte. Auch jetzt wieder scheint sie auf der schnurgeraden Straße, die von Industriebauten, Outlets und Supermärkten gesäumt wird, einen Spurt hinzulegen. Binnen Sekunden vergrößert sich die Entfernung, bis der helle Wagen im Dunst des mittäglichen Sonnenlichts zu verschwimmen scheint. Als er ernsthaft erwägt, aufzugeben und die Verfolgung abzubrechen, drosselt die Porschefahrerin ihr Tempo von neuem, und langsam wird der flache Wagen mit dem ausgeprägten Kühlergrill am Ende der Straße wieder deutlicher sichtbar.
»Verdammter Mist, die verarscht mich doch«, flucht Bastian, ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Es würde ihn nicht wundern, wenn längst der eine oder andere entgegenkommende Autofahrer die Kollegen von der Verkehrspolizei über diese wilde Jagd informiert haben sollte. Möglicherweise wird man den Porsche und damit auch ihn selbst demnächst stoppen. Fragt sich nur wo – und fragt sich ebenfalls, wie er als der rasende Verfolger in diesem sinnlosen Rennen dann dastehen wird.
Weiter kommt Bastian mit seinen Überlegungen nicht, denn jetzt fordert der Kreisverkehr am Ortseingang von Keitum seine ganze Aufmerksamkeit. Schon glühen die Bremsleuchten des Porsche auf, und Bastian schließt in Sekundenschnelle so weit auf, dass endlich das Kennzeichen zu entziffern ist. Die Dame kommt aus Hamburg, das hätte er auch nicht anders erwartet. Fragt sich nur, was sie hier auf Sylt will. Dass sie wirklich bloß ihren Bruder zur Beerdigung von dessen Chefin begleitet hat, glaubt Bastian nicht eine Sekunde lang. Doch zunächst stellt sich eine naheliegendere Frage: Wird sie mit ihrem Porsche geradeaus nach Keitum fahren oder nicht doch eher die Abzweigung Richtung Norden nehmen und über Munkmarsch und Braderup nach Kampen zurückkehren?
Während Bastian noch bremst, viel zu spät und viel zu heftig, so dass sein Wagen ausbricht und zu schleudern beginnt, kann er sehen, dass der Porsche tatsächlich fast den gesamten Kreisverkehr umrundet, ihn erst Richtung Munkmarsch verlässt und gleich darauf zügig an Geschwindigkeit zulegt. Nur mit größter Mühe gelingt es Bastian, den Audi wieder einzufangen. Zu seinem großen Glück ist der Kreisverkehr leer, und er muss nicht bremsen, sondern kann schlingernd in die Kurve gehen. Der Fahrer eines aus Keitum kommenden Wagens, der wartend an der Zufahrt zum Kreisverkehr steht, bedenkt Bastians gefährliches Manöver mit einem aufdringlichen Hupton und einer eindeutigen Geste des gestreckten Zeigefingers in Richtung Stirn. Doch der Hauptkommissar ist längst jenseits von Gut und Böse. Er kommt gar nicht mehr auf die Idee, von seiner Beute abzulassen, und beschleunigt von neuem.
Auf Höhe der Severinskirche hat er den Porsche fast eingeholt. Doch plötzlich schiebt sich vollkommen überraschend ein älterer Mercedes aus dem Parkplatz gegenüber der Kirche auf die Fahrbahn in Richtung Munkmarsch. Als der Fahrer die behagliche Geschwindigkeit von vierzig Stundenkilometern erreicht hat, stellt er jedes Beschleunigen ein. Jetzt ist es an Bastian zu hupen, denn zum Bremsen ist es längst zu spät. Hektisch bricht Bastian auf die Gegenfahrbahn aus, schlingert an dem Mercedes vorbei und kann gerade noch rechtzeitig zurück nach rechts einscheren, um nicht frontal in einen entgegenkommenden Jeep zu rasen. Als er sieht, dass vorn auf der Straße wieder die Bremsleuchten des Porsche glühen, erreicht seine Wut ihren Höhepunkt. Offensichtlich will Antonia Dornfeldt ihn nicht nur provozieren, sondern sich auch ausgiebig an seinen Nöten weiden. Ihr Bemühen, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, ist jedenfalls allzu deutlich. Und auch auf
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