Frauen lügen
Einzige, der wirklich Grund zum Trauern gehabt hätte?
Und führe uns nicht in Versuchung.
Diese ganzen Schaumschläger dort drüben auf dem Gräberfeld sind letztendlich nichts anderes als Zaungäste in Susanne Boysens Leben gewesen, davon ist Fred plötzlich fest überzeugt. Jetzt erst ist Susanne angekommen, für immer wird sie hier in seiner ganz unmittelbaren Umgebung ruhen. Was bisher als Drohkulisse am Horizont stand, erweist sich nun als unerwarteter Trost. Am Ende ist Susanne doch zu niemand anderem als zu ihm zurückgekehrt.
Amen.
Erschöpft spürt Fred Hübner, wie sein Kopf auf die Schulter sinkt. Es ist vollbracht. Wie gern würde er sich jetzt einem langen, heilenden Schlaf hingeben. Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Doch der Prozess des Einnickens verläuft nicht ungestört.
Da ist etwas, das ihn hindert.
Ein unbekannter Stachel.
Ein Gedanke, eine Erinnerung, eine Beobachtung?
Mühsam taucht Fred aus den Tiefen des Medikamentenrausches auf. Ihn befällt ein ungutes Gefühl. Hatte er nicht einen bestimmten Grund für seine Anwesenheit hier? Er weiß, er muss sich konzentrieren, und es muss schnell gehen, denn nur zu bald werden ihn die Schleier der Beruhigung wieder einlullen.
Da fängt eine Bewegung seinen Blick ein. Auf dem Schotterweg zwischen der Friedhofsmauer und dem Lattenzaun, der das Grundstück mit der baufälligen Villa begrenzt, läuft eine unauffällige Gestalt in leicht geduckter Haltung mit gesenktem Kopf entlang. Eine Frau mit halblangen Haaren und einer Cordhose, unscheinbar und dezent. Zu dezent. Sie hat nicht einen einzigen Blick für die Prominentenbeerdigung, die sich nur wenige Meter entfernt in ihrer unmittelbaren Nähe abspielt. Genau das macht Fred stutzig. Und als er genauer hinsieht, bemerkt er, dass es sich bei der Frau um dieselbe Person handelt, die er bereits am Morgen neben dem Dorfteich gesehen hat. Sie war es, die ihn so verwundert angeschaut hat. Warum treibt sie sich ebenso wie er selbst seit Stunden hier herum? Seine eigenen Beweggründe kennt Fred genau. Aber welchen Grund mag sie dafür haben?
Fred ist sicher, dass sie unter den halblangen Haaren, die ihr Gesicht fast verbergen, das Geschehen auf dem Friedhof sehr genau beobachtet. Ihr Kopf ist stetig ein kleines bisschen zur Seite geneigt, nichts, was einem flüchtigen Beobachter auffallen würde. Aber Fred ist längst mehr als das. Und als die Fremde jetzt auch noch am Ende der Friedhofsmauer kehrtmacht und zurück in Richtung Dorfteich läuft, wieder mit dem eigentümlich geneigten Kopf, diesmal allerdings zur anderen Seite, mobilisiert Fred seine letzten Kräfte, stemmt sich aus dem Strandkorb und stürmt mit zunächst schwankenden, dann immer sichereren Schritten durch den Garten zurück zur Straße.
Die Bewegung stabilisiert seinen Kreislauf, vielleicht hat auch das Adrenalin, das er plötzlich spürt, die Wirkung des Beruhigungsmittels vorübergehend neutralisiert. Fred springt über den niedrigen Grundstückszaun. Wenn er sich beeilt, dürfte die Unbekannte den Kirchenvorplatz kaum vor ihm erreichten, denn die Straße vor der Villa verläuft parallel zu dem Fußweg.
Doch es kommt anders als erwartet, denn noch bevor Fred um die Ecke biegt, stürmt die Frau an ihm vorbei. Fred schätzt ihr Alter auf Anfang fünfzig, die feinen unauffälligen Züge sind dezent geschminkt, als junge Frau war sie womöglich recht attraktiv. Jetzt wirkt sie trotz ihrer schlanken Figur und der sorgfältig gefärbten Haare auf eine rätselhafte Weise ältlich, was vermutlich an dem verkniffenen Zug um ihre Mundwinkel liegt.
Fred dreht sich um und folgt ihr langsam. Mit forschem Schritt läuft die Unbekannte noch etwa hundert Meter geradeaus, ohne sich umzusehen. Dann setzt sie sich in einen hellen Kleinwagen, der an der Straße zum Campingplatz geparkt ist. Sie startet hastig und braust direkt auf Fred zu. Das Kennzeichen ist gut zu erkennen: NF – ES 1961 . Doch weil sich Fred darauf konzentriert und der Wagen ein ziemliches Tempo vorlegt, kann er Marke und Typ nicht eindeutig zuordnen. Für Kleinwagen hat sich Fred Hübner noch nie interessiert, und jetzt wird ihm dieses Desinteresse zum Verhängnis. Denn längst sind Wagen und Insassin am Ende der Straße verschwunden, und Freds Überlegung, ob es sinnvoll sein könnte, mit dem Rennrad die Verfolgung aufzunehmen, kommt viel zu spät.
Niedergeschlagen kehrt er zu dem Platz vor der Dorfkirche zurück, wo gerade die ersten Beerdigungsgäste auftauchen.
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