Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
sprechen. Die Stadt war also voll von Leuten, die dort ihre Zelte nur für eine befristete Zeit aufgeschlagen hatten. Das trug zu einer lockeren Lebensart bei, die »freier und angenehmer« war »als in dem übrigen Deutschland« . So berichtet es jedenfalls August Siegfried von Goué, ein Freimaurer und Schriftsteller, der nichts anbrennen ließ. Alles atme Liebe. Man bekomme Weiber und Mädchen zu Gesicht, ohne dass gleich die dazugehörigen Männer oder Eltern aufkreuzten. Auch sei erstaunlich, wie man hier die Liebe bezeichne. Wo man andernorts davon spreche, einer Dame den Hof zu machen, sage man hier, den Knopf machen. »Ein Liebhaber wird also ein Knopfmacher genannt.«
Womit wir bei Goethe wären, der im Mai 1772 Quartier in Wetzlar bezog, vorgeblich um als Praktikant am Reichskammergericht einen weiteren Teil des väterlichen Ausbildungsplanes zu absolvieren. In Wirklichkeit war er dort vor allem als »Knopfmacher« unterwegs und schuf sich so die Voraussetzungen dafür, den Werther schreiben zu können. Bekanntlich verliebte sich Goethe, kaum einen Monat in Wetzlar, während eines bis zum Morgengrauen währenden Festes in die achtzehnjährige Charlotte Buff, die allerdings, wie er erfahren musste, bereits ein heimliches Verlöbnis mit Johann Christian Kestner eingegangen war. Kestner war Anfang dreißig, acht Jahre älter als Goethe und das, was man einen gefestigten Charakter nennt. Die sich anbahnende Ménage à trois führte zu allerlei Verwicklungen und schließlich zur unangekündigten Abreise Goethes aus Wetzlar nach einem Aufenthalt von gerade einmal vier Monaten. Er hinterließ zwei wehmütige Abschiedsbriefe, den einen an Kestner, den anderen an Lotte.
Damit Goethe den Werther schreiben konnte, musste aber noch ein weiteres, entscheidendes Ereignis hinzukommen. Am 30. Oktober nahm sich eine flüchtige Bekanntschaft von ihm wie von Kestner, der fünfundzwanzigjährige Jurist Karl Wilhelm Jerusalem, das Leben, ausgerechnet mit zwei Pistolen, die er sich von Kestner geliehen hatte, und wohl aus einem ähnlichen Grund wie dem, der zu Goethes vorzeitiger Abreise geführt hatte, nämlich der mehr oder weniger unerwidert gebliebenen Liebe zu einer bereits vergebenen Frau. Als Goethe sich im November noch einmal für einige Tage im engen Kontakt mit Kestner und Lotte in Wetzlar aufhielt, dürfte der Suizid Jerusalems das beherrschende Thema nicht nur ihrer Gespräche gewesen sein. Wohl auch um sich zu entlasten, fertigte Kestner einen ausführlichen schriftlichen Bericht über die Vorgeschichte und den Hergang von Jerusalems Selbstmord an, aus dem Goethe später etliche Einzelheiten und ganze Wendungen in seinen Roman übernahm. So ist die sogenannte Werther-Uniform – blauer Rock mit gelber Weste –, die damals große Mode wurde und die sogar Goethe selbst 1775 auf seiner Reise in die Schweiz wie auch in Weimar getragen haben soll, aus dem Bericht Kestners über den toten, so gekleideten und in einer Blutlache liegenden Jerusalem in den Roman gelangt. Die Pistolen, mit denen sich Jerusalem aus dem Leben schoss und um die er Kestner in einem Briefchen ersucht hatte, woraufhin der sie ihm durch einen Bediensteten schicken ließ, gehen in Goethes Roman hingegen noch durch die Hände der Geliebten. So schon in dem einzigen der Nachwelt überlieferten, nicht näher datierbaren Entwurf Goethes zum Werther , der seine Keimzelle darstellen dürfte: »Sie sind durch ihre Hände gegangen, sie hat den Staub davon geputzt, ich küsse sie tausendmal, sie hat euch berührt … Und sie reicht dir das Werkzeug, Sie, von deren Händen ich den Tod zu empfangen wünschte und ach nun empfange.«
Als Die Leiden des jungen Werthers dann fast zwei Jahre später erschien und binnen kurzem ein überwältigender Publikumserfolg wurde, lag es natürlich insbesondere in Wetzlar nahe, den Text als Schlüsselroman zu lesen. »Es ist ein Spektakel mit dem Buch«, schreibt Hans Buff, einer von Charlottes jüngeren Brüdern, an seinen Schwager: »Zwei Exemplare sind hier in der ganzen Stadt und jedermann will es lesen! Einer stiehlt es dem andern, so gut er kann. Gestern Abend lasen der Papa, Caroline, Lene, Wilhelm und ich in einem Exemplar, welches wir uneingebunden von Gießen hatten; jedes Blatt ging durch fünf Hände.« Andere berichten über Ströme von Tränen, die bei der Lektüre flossen. Ein Leser wundert sich, »wie das Ding durch Leib und Leben geht, in jeder Ader zuckt«. Auch Männer lesen das Buch einander vor. Von
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