Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Seitdem hält sich hartnäckig das Gerücht, der Werther habe eine regelrechte Selbstmordepidemie ausgelöst. Wirklich belegt sind jedoch gerade einmal ein knappes Dutzend Fälle, auf die das Etikett »Werther-Selbstmord« irgendwie passt, und das europaweit und in einem Zeitraum von annähernd sechs Jahrzehnten.
In der Regel beruhten die Fälle auf dem Hörensagen. Stieß man auf einen Selbstmörder in Werther-Tracht, schien der Fall klar zu sein. Einige kennzeichneten ihre Tat als Suizid in der Nachfolge von Goethes Helden, indem sie den Roman aufgeschlagen neben sich liegen ließen. Bei einer Nonne, die einen Selbstmordversuch beging, fand man Werthers Leiden im Einband ihres Gebetbuches versteckt. Der Jurist und Historiker Renatus Karl Freiherr von Senckenberg berichtete, der Werther sei »tägliches Lesebuch« der jungen Frau gewesen, die Nonne nur wider Willen war. »Zu stark durch die reizenden Schilderungen dieses Buches gerührt, fängt sie an, trotz aller Gelübde zu lieben. Aber die Unmöglichkeit, ihren Gegenstand zu besitzen, greift ihre Nerven zu sehr an. Sie fällt in ein hitziges Fieber und phantasiert nichts als Liebe und Werther.«
In der Tat war Werther -Lektüre reine Nervensache. Dieses Buch ging seinen Leserinnen und Lesern nicht nur unter die Haut, es traf sie im Glutkern ihrer Existenz. Darin war es repräsentativ für die viel gelesenen Romane der Zeit. Deren Leser und Leserinnen waren geradezu süchtig nach jenem Zustand der Übererregtheit, begleitet von fiebriger Unruhe, keuchendem Atem, Tränenergüssen, Schlaflosigkeit und schlussendlich einer gewissen Schlaffheit, den die damalige medizinische Literatur als Symptom einer überhitzten Einbildungskraft beschreibt. Aufgrund ihrer physiologischen oder nervlichen Konstitution sollten insbesondere Frauen für solche Exaltiertheiten anfällig sein.
Doch der Werther war mehr als ein Buch, das seine Leserinnen und Leser entflammte und in Hitze geraten ließ. Es war der erste Roman, der den Selbstmord, eine Todsünde, zu seinem zentralen Thema machte – und das, ohne ein Urteil über Recht oder Unrecht, Moral oder Unmoral zu fällen, viel eher nach Art eines medizinischen Fallbeispiels. Im Werther , so der Autor selbst kurz und bündig, habe er »einen jungen Menschen« dargestellt, » der mit einer tiefen reinen Empfindung, und wahrer Penetration begabt, sich in schwärmende Träume verliert, sich durch Spekulation untergräbt, bis er zuletzt durch dazutretende unglückliche Leidenschaften, besonders eine endlose Liebe zerrüttet, sich eine Kugel vor den Kopf schießt«. (Penetration meinte seinerzeit nicht Geschlechtsverkehr, wozu es in dem Buch gar nicht kommt, sondern durchdringenden Verstand, Scharfsinn.)
Das trennte Goethes Romanerstling auch von Rousseaus Briefroman Julie oder Die Neue H é loïse – dem großen französischen Romanbestseller des 18. Jahrhunderts. Auch dort geht es um eine unmögliche Liebe. Allerdings erfolgt der Liebesverzicht erst, nachdem die beiden Liebenden, die blutjunge Julie und ihr Hauslehrer Saint-Preux, schon mindestens einmal das Bett geteilt haben. Als Julie standesgemäß Herrn de Wolmar heiratet, ist Saint-Preux dem Selbstmord nahe. Doch es kommt anders: Von seinem englischen Freund Milord Edouard lässt er sich zu einer mehrjährigen Reise in die französischen Kolonien überreden – und darin liegt, noch mehr als in der sexuellen Erfüllung, der entscheidende Unterschied zu Goethes Buch. Werthers Ende ist kein Ereignis, das auch hätte unterbleiben können, sondern die Grundidee des gesamten Romans, auf die das Geschehen vom ersten Satz an ausgerichtet ist und unerbittlich zuläuft. Das führte dazu, dass die christliche Orthodoxie Goethes Buch als »verfluchungswürdige Schrift« und »Pestgeschwür« denunzierte und auf diese Weise Vätern wie dem von Luise die nötige rhetorische Munition lieferte, um gegen die Vorlieben ihrer Kinder zu wettern.
Unter den Selbstmordfällen, die mit dem Werther in Verbindung gebracht werden, war die Zahl der Frauen signifikant hoch, obwohl der Held des Romans männlichen Geschlechts ist. Allerdings weist er viele Züge auf, die damals wie auch heute noch als typisch weiblich angesehen wurden: Feinfühligkeit, Empathie, Naturverbundenheit, Leselust, Schwärmerei. So lud er auch Leserinnen zur Identifikation ein, weil sie in ihm ihre eigenen Gefühle so plastisch dargestellt fanden. Selbst wenn viele Leserinnen und Leser des 18. Jahrhunderts keineswegs mehr
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