Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
prächtigen Bücher, die der Herr Major immer mitbringt. »Deine Tochter betet auch immer daraus.«
Da pfeift der Stadtmusikant: »Betet!« Die Alte kapiert aber auch gar nichts. Dem vornehmen Herrn sei doch nur die einfache und direkte Sprache, die hier in der Familie nun mal gesprochen werde, zu vulgär und zu roh, um seine hochtrabenden Gefühle darin auszudrücken. Deshalb schleppe er Romane an, um sie künstlich aufzupeppen. Und das Mädel sei ganz wild auf das dumme, ganz und gar unwirkliche Zeug, das ihr Blut in Wallung bringe wie spanische Fliegen.
Oder, in der originalen Sprache des vierundzwanzigjährigen Friedrich Schiller aus der Eingangssequenz seines »bürgerlichen Trauerspiels« Kabale und Liebe aus dem Jahr 1784:
Die rohen Kraftbrühen der Natur sind ihro Gnaden zartem Makronenmagen noch zu hart. – Er muss sie erst in der höllischen Pestilenzküche der Bellatristen künstlich aufkochen lassen. Ins Feuer mit dem Quark. Da saugt mir das Mädel überhimmlische Alfanzereien ein, das läuft dann wie spanische Mucken ins Blut und wirft mir die Handvoll Christentum noch gar auseinander, die der Vater mit knapper Not so noch zusammenhielt. Ins Feuer sag ich.
Da verliebt sich ein gerade zwanzigjähriger Mann in ein sechzehnjähriges Mädchen und wirbt um sie, indem er ihr jene Bücher zu lesen gibt, die ihm sagen, was er fühlt. Statt ihr geradeheraus seine Liebe zu erklären, teilt er ihr seine Empfindungen auf einem Umweg mit, der jedoch direkt zu ihrem Herzen führen soll – vielleicht nachdrücklicher, als er es mit eigenen Worten vermöchte. Und sie erkennt über der Lektüre seine Gefühle als die ihren wieder und beginnt seine Liebe zu erwidern.
Aus adligem, wohlhabendem Haus, kann sich der junge Mann die teuren Neuerscheinungen leisten, die in den letzten Jahren aufgrund der regen Nachfrage und trotz des sich rasch vermehrenden Angebots stark im Preis gestiegen sind. Sie hingegen, ohne eigenes Geld, ist bislang nicht mit belletristischen Werken in Berührung gekommen. Zu Hause gibt es außer der Bibel nur eine Handvoll vom vielen Gebrauch zerfledderter Gebet- und Predigtbücher mit Erbauungstexten – und natürlich die Noten für den Vater. Kein Wunder, dass die Mutter meint, die prächtigen Bände seien zum Beten da; dass man Bücher auch mit klopfendem Herzen lesen, ja, sie verschlingen kann, entzieht sich ihrer Kenntnis.
Anders die Tochter, seitdem sie Ferdinand kennt. Wenn Luise in Schillers Drama ihren ersten Auftritt hat, heißt es ausdrücklich, dass sie ein Buch unter dem Arm trägt. Und obwohl sie gerade aus der Kirche nach Hause kommt, handelt es sich offenkundig nicht um ein Gesangbuch, sondern um einen von Ferdinands Romanen. Wie wir aus Lebenszeugnissen der damaligen Zeit wissen, war es unter jungen Leuten eine verbreitete Angewohnheit, während des Gottesdienstes unter der Kirchenbank Romane zu lesen, die höchst profan und in den Augen der Kirche schändlich waren. Nicht selten dienten Gesangbücher oder die Bibel auch dazu, die Romanlektüre vor den Augen der anderen, seien es nun Eltern oder Lehrer, zu verbergen. Bevor sie ihrem Vater einen »Guten Morgen« wünscht, legt Luise jedenfalls das Buch nieder, als handelte es sich um eine Waffe. Für den Vater liegt in dem »gottlosen Lesen«, wie er es nennt, neben der Beziehung zu Ferdinand die ganze Bedrohung, die er von seiner Tochter abwenden will – vergebens, wie ihm von Anfang an schwant. Daher seine Wut.
Der Musikus Miller gehört zu jenen Vätern, die sich den Verlust der töchterlichen Unschuld nur als Werk der Verführung vorstellen können. In seinem schlichten Weltbild hat der Gedanke keinen Platz, dass Unschuld und Naivität nicht etwas sind, deren Bewahrung sich um jeden Preis lohnt – etwa um den, nie geliebt zu haben, was besonders damals, in Zeiten der Konvenienzehe, etwas anderes war, als verheiratet zu sein. Auffällig oft treffen wir in der Literatur des 18. Jahrhunderts auf unschuldige Mädchenfiguren, die den Machenschaften rücksichtsloser Verführer zum Opfer fallen oder sich auf ihre Weise dagegen zu behaupten wissen. Bis Anfang des 18. Jahrhunderts galten in der Regel die Frauen als das lustvollere Geschlecht: Eva verführt Adam. Nun dreht sich dieses Verhältnis um: Unwissenheit in sexuellen Dingen und Passivität erfahren bei Frauen zunehmend höhere Wertschätzung, auch seitens der Frauen selbst. Der Mann hingegen mit seinem angeblich ausgeprägteren Sexualtrieb schlüpft in die Rolle des
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