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Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)

Titel: Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bollmann
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dem Schriftsteller Wilhelm Heinse ist bezeugt, dass er nach der Lektüre umherschwankte »wie ein Rohr, in einer so wahrhaften Entäußerung seiner selbst, dass es einen jammerte«. Nicht wenige lesen das Buch gleich mehrere Male hintereinander weg. Auguste Stolberg verschlingt es eigener Aussage nach so häufig, dass sie »ihren« Werther bald auswendig weiß. Im Magazin der deutschen Kritik wurde 1775, ein Jahr nach Erscheinen, anonym eine Schilderung veröffentlicht, die den Vorgang der Werther -Lektüre beinahe unmissverständlich mit einem imaginären Geschlechtsverkehr bis hin zum Orgasmus gleichsetzt: »bis vom Nektartaumel Himmel und Erde schwankten«.
    Goethe hatte Jerusalems Geschichte, und das meinte ganz konkret Kestners Bericht über seine letzten Tage und seinen Tod, die eigenen Empfindungen geliehen, wie er das selbst ausdrückte, und daraus ein wunderbares Ganzes gemacht. Dass die inzwischen verehelichten Kestners darüber alles andere als amüsiert waren, ist nur zu begreiflich, insbesondere weil Werthers Briefe den Verlobten Lottes als »elendes Geschöpf« erscheinen lassen, wie Kestner sich gegenüber Goethe völlig zu Recht mokierte: »Musstet Ihr ihn zu so einem Klotze machen?« Und er hat auch direkt eine Erklärung parat, wozu das dient: Der Verlobte des Mädchens wird abgewertet, damit im Kontrast desto mehr Glanz auf den Liebhaber fallen kann.
    Für die nicht direkt Betroffenen hingegen verschmolzen das vom Hörensagen bekannte Ereignis von Jerusalems Selbstmord, das Gerücht über einen wahren Kern der im Werther erzählten Liebesgeschichte und die Fiktion des Briefromans zu einem Amalgam von Literatur und Leben, wie es die Welt bislang nicht gekannt hatte. Niemand wusste etwas Genaues, aber alle Welt redete davon. Und es verwundert nicht, dass das zu Verwechslungen führte: Jerusalem, so hieß es etwa, habe sich aus Liebe zur Tochter des Amtsmanns Buff, also zu Charlotte, getötet; andererseits galt seine letzte Ruhestätte auf dem Wetzlarer Friedhof fortan als Werthers Grab. Besucherinnen der Stadt ließen sich auf das kleine Zimmer führen, in dem Jerusalem seinem Leben ein Ende bereitet hatte, und erkundigten sich nach dem Haus, in dem Lotte gewohnt hatte. Es dauerte nicht lange, da setzten förmliche Prozessionen zu »Werthers Grab« ein, die stark rituelles Gepräge aufwiesen.
    So verabredeten sich im Frühling 1776, eineinhalb Jahre nach dem Erscheinen des Romans, Wetzlarer Bürger und Besucher der Stadt, unter ihnen auch einige Literaturtouristen, zu einer Feier für das unglückliche Opfer der Empfindsamkeit und der Liebe. Wie Friedrich Christian Laukhard, der Chronist dieses Geschehens, ausdrücklich vermerkt, handelte es sich dabei nicht etwa um lauter junge Bengel, wunderliche Narren und andere Gecken, um verträumte Backfische, rotäugige Cousinchen und vierzigjährige Tanten, sondern um »Männer von hoher Würde und Damen von Stand«. Man traf sich bei einbrechender Dämmerung und begann die Feier mit einer öffentlichen Lesung aus Goethes Roman. Teile der Zuhörerschaft stießen immer wieder tiefe Seufzer aus, ihre Gesichter glühten, viele schluchzten in einem fort. Einige Male unterbrochen wurde die Lesung durch Lieder und Gesänge, die alle gemeinsam anstimmten. Darunter war ein »Dank für Werthers Leiden«, der das Büchlein als Seelenarzt feierte und dessen unfreiwillig komische Zeilen einige zum Lachen brachten:
    Genommen hab’ ich die Balsamtropfen
Sie schmeckten so süß; doch – halfen sie nicht;
Denn ach! Bei Liebeskranken ist Hopfen
Und Malz verloren – durch ein Gesicht!
    Ein anderes Lied wendete sich direkt an Lotte und sollte ihr wohl zur Tröstung dienen. Hatte sie doch ihren Geliebten verloren, einerlei, ob es sich nun um Jerusalem oder Werther handelte – und nach dessen Tod hatte ihr Verlobter endlich ein Einsehen bewiesen und sie freigegeben:
    Weine nicht! – ich habe sie gefunden,
Diese Ruhe, nach dem langen Streit,
Und geheilet hat der Tod die Wunden
Und geleitet mich zur Seligkeit.
    Kurz vor Mitternacht formierten sich die Anwesenden zu einer Prozession und setzten sich Richtung Friedhof in Bewegung. Jeder Beteiligte trug ein Wachslicht, alle waren schwarz gekleidet und hatten ihr Gesicht hinter einem Trauerflor verborgen. Wer zu dieser späten Stunde dem Zug auf der Straße begegnete, musste ihn wohl für eine Prozession höllischer Geister halten und schlug das Kreuzzeichen. Als endlich alle auf dem Kirchhof angekommen waren, bildete man einen

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