Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Kreis um das Grab und stimmte die Werther-Hymne des Freiherrn von Reitzenstein an, die »Lotte bei Werthers Grab« überschrieben ist, alle aber nur nach ihrem ersten Vers nannten:
Ausgelitten hast du – ausgerungen
Armer Jüngling! Deinen Todesstreit;
Abgeblutet die Beleidigungen
Und gebüßt für deine Zärtlichkeit.
Urheber unbekannt, »Lotte an Werthers Grab«,
Kupferstich nach John Raphael Smith’s Großgraphik von 1783; 1783,
© Photoaisa/Interfoto
Darstellungen von Lotte an Werthers Grab waren seinerzeit über die Grenzen Deutschlands hinaus als Wandschmuck sehr beliebt. Ein Schattenriss mit diesem Motiv hängt noch 1789 in der Marburger Wohnung der verwitweten Caroline Böhmer, spätere Schlegel und Schelling. Hier eine englische Version des Motivs aus dem Jahr 1783.
Nachdem die vielen Strophen des Liedes samt den neuesten Zusatzstrophen bewältigt waren, ergriff ein Redner das Wort, hielt eine Lobrede auf den Verblichenen und bewies beiläufig, dass der Selbstmord – aus Liebe, versteht sich – entgegen anderslautenden Glaubenssätzen erlaubt sei. Hierauf wurden Blumen auf das Grab geworfen, noch einmal wurden tiefe Seufzer laut, und danach wanderten die Versammelten in die Stadt zurück, »mit einem Schnupfen – im Herzen«, wie Laukhard ironisch anmerkt. Die nächtliche Feier wurde einige Tage später wiederholt; als aber der Magistrat der Stadt sehr deutlich ankündigte, im abermaligen Wiederholungsfall tätlich einzuschreiten, unterblieb die Fortsetzung.
»Und all die Torheit hat das sonst in seiner Art meisterhafte Büchlein des Herrn von Goethe verursacht«, schließt Laukhard seinen Bericht und spricht, ohne es zu ahnen, dem Dichter aus dem Herzen, dem angesichts des unmittelbar nach der Veröffentlichung einsetzenden »Werther-Fiebers«, wie die Zeitgenossen das nannten, das eigene Produkt zusehends unheimlich wurde. Werther war Kultlektüre, nicht die erste in der Geschichte des Lesens, aber doch eine, die Wellen bislang unbekannter Höhe und Intensität schlug, sozusagen ein Tsunami der Gefühle.
Werthers Welt ist eine Ansammlung von Anschauungen, Stimmungen und Befindlichkeiten, die den Lesern des Buches zum Großteil bekannt waren. Die große Kunst von Goethe bestand darin, sie zu einer Liebesgeschichte verarbeitet zu haben, die so authentisch und frisch daherkam, dass sie sich las, als wäre das alles, was man doch längst fühlte und wusste, eine Eingebung des Augenblicks. Zu diesem Zweck wandte Goethe einen Kunstgriff an, den er sich bei Rousseau, aber auch bei Richardson abgeschaut hatte: Er verdichtete das Seelendrama seines Helden in unvergesslichen Szenen und Bildern: die Brot schneidende, sich mütterlich um ihre Geschwister sorgende Lotte; das mitternächtliche Gewitter nach dem Ball, wenn Werther und Lotte ans Fenster treten, sie ihre Hand auf die seinige legt und nur einen Namen sagt: »Klopstock!«; die Lektüre auf dem Sofa, das Buch zu Boden geglitten, wenn der kniende Werther Lotte mit Umarmungen und Küssen bestürmt, während sie den rechten Arm mit dem Tuch in der Hand emporreißt, halb Hilfe erflehend, halb sich der Lust ergebend; schließlich der sterbende Werther, in voller Montur im Bett liegend, den Kopf verbunden, um ihn herum lauter Männer: Albert, der Arzt, der Amtmann, an der Wand Lottes Schattenriss, auf dem Pult Buch und Brief, auf dem Boden Pistole und Blutlache.
Die größte Aufmerksamkeit zog ein Phänomen auf sich, das erst zweihundert Jahre später einen Namen bekam, dann aber gleich einen wissenschaftlichen: der sogenannte Werther-Effekt. Danach besteht ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Berichterstattung über einen Suizid und der Steigerung der Suizidfälle in der Bevölkerung. 1974, pünktlich zum zweihundertsten Geburtstag von Goethes Roman, wurde dieser Zusammenhang zum ersten Mal belegt. Der Soziologe David Philipps wertete dafür die Titelseiten der New York Times zwischen 1947 und 1967 aus. Sein Fazit: Je prominenter die Person war, über deren Selbsttötung berichtet wurde, desto höher die Zahl der Nachahmungstäter.
Nun war der Werther ein Roman, aber durch die allen Lesern bekannte Verarbeitung der Geschichte von Jerusalem war der Realitätsvorbehalt der Fiktion außer Kraft gesetzt. Das Suggestive des Briefromans verstärkte diesen Eindruck noch. Der Rat der Universitätsstadt Leipzig jedenfalls reagierte prompt: Er untersagte die Verbreitung von Goethes Buch mit der Begründung, es sei eine Empfehlung des Selbstmordes.
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