Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
eigenen Kreisen zirkulierenden Freundschafts- und Liebesbriefe gelesen haben. Einen Roman aufzuschlagen bedeutete gewissermaßen, eine geheimnisvolle Schachtel mit unbekannten Briefen zu öffnen, die von einer oder von mehreren Personen geschrieben waren. Je mehr Absender, umso komplexer war das Geschehen, umso perspektivenreicher die Darstellung und umso größer auch die Romankunst des Autors. Wie von Geisterhand waren die Briefe in der Schachtel bereits in die richtige Reihenfolge gebracht. Und indem man sie nacheinander las, erhielt man auf unwiderstehliche Weise Einblick in Gefühle und Motive, die jeden Einzelnen von uns umtreiben und auf diese Weise die Geschichten hervorbringen, die wir dann später als unsere eigenen Lebensgeschichten begreifen lernen.
Urheber unbekannt, Nachstich des Titelkupfers von Daniel Chodowiecki,
»Porträt Werthers/Der Abschied Werthers von Lotte« für Goethe, Johann Wolfgang: Werke.
Die Leiden des jungen Werthers. Frankfurt und Leipzig 1778; 1778, © akg-images
In Goethes Die Leiden des jungen Werthers wird wenig geliebt, dafür viel gelesen. Zum Auftakt reicht ein Dichtername aus dem Munde einer Frau, um eine verwirrende Leidenschaft in Gang zu setzen. Später kommt es zu regelrechten Leseexzessen, die in sich vereinigenden Tränenströmen, theatralischen Umarmungen und wilden Küssen gipfeln, aber auch den endgültigen Abschied von der Geliebten bedeuten. Am Schluss liegt ein Buch in der Nähe eines Toten: das bürgerliche Trauerspiel Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing. Demonstrativ aufgeschlagen ist es an der Stelle, wo der Vater seine Tochter auf deren Flehen hin eigenhändig erdolcht. Werthers Leiden sind auch eine Geschichte der Leselust und ihrer Verstrickungen.
3
Wetzlar, 1774
Der Werther-Effekt
Die Stube ist eng, getünchte, bilderlose Wände, niedrige Decke, solide, doch abgewohnte Möbel, eine hausbackene Atmosphäre – bieder und ohne Reiz. Es ist morgens, die Frau steckt noch im Nachtgewand. Der Mann stellt die Bassgeige, auf der er gerade gespielt hat, zur Seite. Er ist ein im Dienst der Stadt stehender Berufsmusiker, eher Handwerker als Künstler.
Unruhig geht der Mann in dem kleinen Zimmer auf und ab. Er macht sich Sorgen um seine Tochter. Die Sache wird ernst. Das Techtelmechtel mit dem Major bringt das Mädchen ins Gerede und bedroht den guten Ruf der Familie. Sein Vater scheint von der Sache Wind bekommen zu haben – kurz und gut, er wird dem jungen Mann sein Haus verbieten müssen.
Die Sorge für das Wohl der Familie und dafür, dass hier alles mit rechten Dingen zugeht, fällt in seine Verantwortung. Er hätte die Tochter zur Rede stellen, den jungen Mann zum Schweigen bringen – oder, besser noch, gleich alles dem Herrn Papa erzählen sollen. Der junge Major wird mit einem Rüffel davonkommen, und alles Unheil trifft den Bassgeiger.
Die Frau versucht, den Unmut des Mannes zu beschwichtigen: »Wer kann dir was anhaben?« Ist ihr Mann, der Musikus Miller, nicht angesehen in der Stadt? Die Schüler jedenfalls reißen sich um Stunden bei ihm. So auch der Major.
Der Mann wird deutlicher, redet sich in Rage, seine Sprache legt gewaltig an Derbheit zu. Was bitte soll bei dem Verkehr der beiden miteinander herauskommen? Nehmen kann der junge Herr das Mädchen nicht, jedenfalls nicht zur Frau. Wer weiß, mit wie vielen er es zuvor getrieben hat. Vermutlich wird er seiner Tochter etwas anhängen, ihr womöglich ein Kind machen, und sie kriegt dann keinen anderen mehr ab oder findet gar Gefallen an der Sache und prostituiert sich auf Teufel komm raus. Schließlich sei das Mädchen attraktiv, schlank, gut gebaut. Den Männern sei doch egal, was die Weiber im Kopf haben, Hauptsache, sie haben einen geilen Arsch. Und wenn der junge, leichtsinnige Kerl erst Witterung aufnehme, gebe es kein Halten mehr – »ich verdenks ihm gar nicht. Mensch ist Mensch«. Das weiß er.
Die Mutter wagt einen Einwurf:Vergesse er denn ganz die hübschen Briefchen, die »der gnädige Herr« schreibt? Daran sehe man doch sonnenklar, dass es ihm nur um »die schöne Seele« zu tun sei.
Das weiß der Vater besser: »Wer einen Gruß an das liebe Fleisch zu bestellen hat, darf nur das gute Herz Boten gehen lassen.«
Doch die Frau gibt nicht auf. Später wird sie noch all die schönen, geldwerten Geschenke ins Feld führen, die der junge Herr gemacht hat, und sich daraufhin von ihrem Mann die Bezeichnung »infame Kupplerin« einhandeln. Doch erst einmal erwähnt sie die
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