Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
ausschließlich die Bibel lasen, betrachteten sie weiterhin jedes Buch, gerade auch Romane, als handelte es sich um heilige Schriften. Sie hielten die Literatur für unbedingt wahr und erhofften sich von ihrer Lektüre Aufschluss darüber, wie sie ihr Leben einrichten und bewältigen sollten. Klappten sie das Buch schließlich zu, dann beseelt von dem Wunsch, so zu leben – so tugendhaft, so lebendig, so gefährlich – wie die »heiligen« Gestalten, von denen sie soeben gelesen hatten.
Dem jungen Goethe war dieses Leseverhalten an der eigenen Schwester Cornelia aufgefallen. Im Alter von fünfzehn Jahren schwärmte sie für die Romane von Richardson, insbesondere für Die Geschichte des Sir Charles Grandison . »Alles würde ich darum geben, um in einigen Jahren, wenn auch nur ein wenig, der hervorragenden Miss Byron zu gleichen … Dieser Wunsch bewegt mich Tag und Nacht!«, hielt Cornelia, stellvertretend für die Mehrzahl der Leserinnen des Romans, in ihrem Tagebuch fest. Harriet Byron wird zu guter Letzt die Gemahlin von Charles Grandison, dem sensiblen Mann und einem Ausbund an Tugendhaftigkeit. Cornelia hat aber auch den Preis für diese Identifikation benannt: In dem Maße, wie sie sich an Esprit und Schönheit einer erdichteten Figur zu messen begann, wurde ihr die eigene Unzulänglichkeit als Frau nur umso bewusster: »Sie nachahmen? Ich Närrin – kann ich das? Ich würde mich schon glücklich schätzen, wenn ich auch nur den zwanzigsten Teil vom Geist und der Schönheit dieser Dame besäße.« Cornelias früher Tod nach jahrelangen Depressionen hatte auch damit zu tun, dass sie einen Maßstab für ihr Leben entwickelt hatte, gegenüber dem sie ihr wirkliches Leben als Scheitern betrachtete.
1771, drei Jahre vor Werthers Leiden, war anonym ein deutscher Briefroman erschienen, als dessen Herausgeber zwar mit Christoph Martin Wieland ein renommierter Schriftsteller fungierte, dessen Verfasser, wie alle Welt bald wusste, aber in Wahrheit eine Frau war, eine literarische Debütantin fortgeschrittenen Alters: Marie Sophie von La Roche, eine Generation älter als Goethe, die Großmutter Bettina von Arnims und Clemens Brentanos. Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim war wie gemacht für die Erwartung, in den Romanen eine Anleitung zum tugendhaften, zum besseren Leben zu finden, wie das Zeugnis von Karoline Flachsland belegt: »Mein ganzes Ideal von einem Frauenzimmer!«, schwärme sie ihrem Verlobten Johann Gottfried von Herder vor: »Sanft, zärtlich, wohltätig, stolz und tugendhaft. Und betrogen. Ich habe köstliche, herrliche Stunden beim Durchlesen gehabt.« Doch auch hier meldet sich das frustrierende Gefühl, dem herbeiphantasierten Frauenideal hoffnungslos unterlegen zu sein: »Ach, wie weit bin ich noch von meinem Ideal von mir selbst weg. Welche Berge stehn getürmt vor mir. Ach! Ach, ich werde im Staub und in der Asche bleiben.« Der kokette Ton der jungen Frau, die sich für den Verlobten als naive Seele zu inszenieren weiß, verrät uns jedoch, dass wir uns um ihr Heil keine Sorgen zu machen brauchen.
Die besonders unter jungen Frauen verbreitete Leseerwartung, in einem Roman Leitbilder fürs eigene Leben zu finden, blieb auch dann noch intakt, wenn Musterhaftigkeit und Orientierungswert eines Buches wie im Falle von Goethes Erstlingsroman äußerst fragwürdig waren. Das zeigt sehr gut die Werther -Lektüre der Freifrau Elisabeth von der Recke, von der an anderer Stelle bereits die Rede war. Im Alter von fünfzehn war sie 1771 mit dem siebzehn Jahre älteren Kammerherrn Baron von der Recke verheiratet worden, einem Landwirt und Liebhaber der Jagd, der die Rauheit seiner ehemaligen militärischen Umgangsformen auch im häuslichen Verkehr nicht ablegte. »Bei einer Frau taugt Folgsamkeit mehr als Verstand«, war seine Ansicht. Die empfindsame und seit ihrer Kindheit zur Schwermut neigende junge Frau führte an der Seite des gänzlich anders gearteten Gatten eine unglückliche Existenz. 1772 schreibt sie an eine Freundin: »Großmama sagt: ›Weiber werden durch Lesen zum Narren, die Bücher sind nur für Männer gemacht!‹ – recht als hätten wir keine Seele, als wären die Weiber nur ein Stück Fleisch!« Kein Wunder also, dass sie für den nur unwesentlich älteren Gymnasiallehrer David Hartmann zu schwärmen begann, als er ihr den Hof machte. Hartmann wurde von den Zeitgenossen »tiefdringendes Genie« zugesprochen; er soll ein Verehrer im Werther -Stil gewesen sein. Gemeinsam lasen
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