Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
die beiden jungen Menschen Goethes Roman. Dennoch widerstand sie der Versuchung, sich über Gebühr mit Lotte zu identifizieren und dem Drängen Hartmanns nachzugeben. Später tadelte sie an Goethes Frauengestalt, dass sie dem verliebten Werther zu stark entgegenkommen sei. Sie selbst jedenfalls entfernte den verliebten (und wohl auch geliebten) Vorleser rasch aus ihrer Nähe. Die Abneigung, die sie daraufhin gegen Lotte entwickelte, ging so weit, dass sie sich als Autorin den Vornamen Elisa zulegte, während ihr Rufname Charlotte war und sie ihre Briefe häufig mit Lotte unterzeichnet hatte. Da Goethes Roman ihr keine moralisch akzeptable Lösung des Problems bot, lehnte sie ihn kategorisch ab. Entweder ein Roman taugte als Vorbild fürs Leben oder er taugte nichts, so wohl ihre Meinung.
Solange es sich um Romane wie Pamela oder auch Rousseaus Julie oder Die Neue H é loïse handelte, ließ sich die Erwartungshaltung, die Leserinnen wie Cornelia Goethe oder Elisa von der Recke an ein Buch hatten, unter Einhaltung moralischer Standards noch einigermaßen umsetzen. Zumindest boten die fiktiven Gestalten einen Orientierungsrahmen, wie zu leben sei. Im Fall der Clarissa stieß diese Vorstellung der Vermittlung von Lesen und Leben aber schon an ihre Grenzen: Sollte man, wenn einem derart Schlimmes wie ihr widerfahren war, sich tatsächlich ins Sterben schicken, um die Verfehlung abzubüßen? Oder war Clarissas Schicksal nicht vielmehr ein warnendes Beispiel, wie es einem erging, wenn man sich in Sachen Sittsamkeit nur die geringsten Konzessionen und Nachlässigkeiten erlaubte? Vollends in eine Krise geriet der Wunsch nach Orientierung mit Goethes Werther , und der Autor dürfte seine höhere Freude daran gehabt haben. Zwar gab es unzählige Versuche von Leserinnen und Lesern, mit der Provokation des Endes der Hauptfigur per Suizid irgendwie ein Auskommen zu finden. Sie liefen letztlich alle darauf hinaus, das Paar, das sich aus guten Gründen nicht gefunden hatte, in den Himmel zu heben. Doch irgendwie blieb dabei ein ungutes Gefühl zurück. In Wirklichkeit hatte Goethe einen Roman geschrieben, der dem Vorhaben, ihn als Lebensratgeber zu nutzen, beträchtlichen Widerstand leistete. Es war ein Roman, der sich frei machte von pädagogischen Ambitionen und als Kunstwerk Unabhängigkeit reklamierte. Auch in diesem Sinne war der Werther pure Rebellion.
Johann Friedrich August Tischbein,
»Caroline Schlegel-Schelling«, 1798, © bilwissedition/akg-images
Lässt sich die Biographie eines Menschen anhand seiner Lieblingsbücher erzählen? So, dass wir nachvollziehen können, wie er oder sie im Spiegel der Literatur das eigene Ich ausbildet? Der Schriftsteller Graham Greene hat den Moment, in dem ein Leser auf der Suche nach seiner Identität auf ein Buch trifft, das ihm dafür entscheidende Hinweise gibt, einen »gefährlichen Augenblick« genannt. Die fragliche Biographie müsste sich demnach aus lauter solchen gefährlichen Augenblicken zusammensetzen. Wir machen die Probe an einer der berühmtesten deutschen Frauen des 18. Jahrhunderts: Caroline Schlegel-Schelling.
4
Clausthal, 1786
Lesen, um zu leben: Caroline Schlegel-Schelling
»Mamsell Michaelis ist – ein wenig wild.« Was steckt dahinter, wenn 1779 ein solcher Satz über eine Sechzehnjährige gesagt wird, noch betont durch den vielsagenden Gedankenstrich? Verbringt sie ihre Zeit mit Jungen, klettert sie auf Bäume und trägt am liebsten Hosen? Das alles kaum. Zwar werden Caroline Michaelis und ihre jüngere Schwester drei Jahre später dabei erwischt, als sie auf einem Spaziergang mit einem Studenten Rast in einem Heuschober machen, aber mit dem erotischen Techtelmechtel, das ihnen von einer so empörten wie schadenfrohen Göttinger Gesellschaft sofort angedichtet wird, ist es nicht weit her. Caroline, die älteste Tochter aus der zweiten Ehe des Göttinger Professors Johann David Michaelis, ist eine »wilde Hummel«, wie man seinerzeit sagte, weniger weil sie über die Stränge schlägt – das tut eher die besagte Schwester – als wegen ihres vorlauten Mundwerks und ihres frühreifen, an Arroganz grenzenden Gebarens, zumal in der Öffentlichkeit.
In einer Stadt wie Göttingen, in der trotz der renommierten, weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannten Universität drei Viertel der Bevölkerung noch Analphabeten sind, sticht die brünette Caroline durch ihre Leselust und ihren Bildungseifer hervor. Anfangs erhält sie zu Hause Unterricht von einem
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