Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Privatlehrer, einem Studenten der Theologie, später, vom elften bis zum vierzehnten Lebensjahr, besucht sie ein Mädchenpensionat in Gotha. Sie spricht und schreibt fließend Englisch und Französisch, lernt Italienisch. Die damals modernen Klassiker wie Alexander Pope, David Hume, John Milton und Edward Young liest die Tochter des anglophilen Gelehrten im Original und exzerpiert sie auch fleißig; bald wird sie sich an Übersetzungen der Lustspiele Carlo Goldonis versuchen. Zudem ist sie eine begeisterte und begabte Vorleserin. Ihre warme Altstimme fesselt die Zuhörer. Laut der Schwester Luise liest sie zum Weinen schön. Die beinahe körperliche Erregung, die die Literatursprache auf sie ausübt, überträgt sich auf ihre Zuhörer. Neben den zeitgenössischen Romanen gilt ihre große Liebe dem Theater. Wenn eine Wanderbühne in dem »ganz erträglich eingerichteten« Göttinger Theater Station macht, sitzt Caroline, sooft es ihr möglich ist, im Publikum.
Mit der ein Jahr älteren Juliana von Studnitz unterhält sie einen Briefwechsel in einem gestelzten, nicht immer fehlerfreien, aber flüssigen Französisch. Häufig wiederkehrendes Thema ist der aktuelle Lektürestoff; schon früh erweist sich Caroline als eine kritische Leserin. Die ewige Leier trivialer Liebesromane, etwa der des viel gelesenen Johann Martin Miller – »Liebe unglücklich Liebende«, äfft sie seinen Stil nach –, stört sie schon mit fünfzehn sehr. Ihre Urteile sind niemals zimperlich, selbst wenn sie einmal, was selten genug vorkommt, rückhaltlos bewundert. Öfter flüchtet sie sich in Spott, wie er in der Enge einer Kleinstadt gedeiht, wo man sich die anderen auf Distanz halten muss, um die eigene Person zu entwickeln. Ihren Freundinnen, die meisten davon ebenfalls Göttinger Professorentöchter, sowie ihrer Schwester wirft Caroline immer wieder vor, sich in ihrem Fühlen und Trachten zu sehr an rührseligen Liebesromanen zu orientieren. Sie selbst glaubt sich hingegen frei von solchen Anwandlungen: »Fern von mir sei jede romanhafte Idee!« Das ist natürlich Selbsttäuschung: Wo andere die Romane nachleben wollen, neigt sie dazu, das Leben zum Roman zu stilisieren – statt es überhaupt erst einmal zu leben. Man soll nicht spekulieren, aber zweihundert Jahre später geboren, hätte es die Professorentochter wahrscheinlich zu einer angesehenen Rezensentin in einem der führenden deutschen Feuilletons gebracht.
Was die Bibliothek des Vaters, eines Orientalisten und Theologen, an Gegenwartsliteratur nicht hergibt, beschafft sich die junge Frau leicht anderweitig. Die bis 1763 von ihrem Vater und seitdem von Professor Christian Gottlob Heyne, dem Vater der Freundin Therese, geleitete Universitätsbibliothek befindet sich direkt gegenüber dem Elternhaus. Deren Bibliothekare sind den charmanten Göttinger Professorentöchtern und ihrer Leselust durchaus gewogen. Zudem hat die Universitätsstadt eine andernorts unbekannte Dichte von Leihbibliotheken und Buchhandlungen aufzuweisen. In Göttingen erscheint seit 1769 der Göttinger Musen-Almanach , in dem die Dichter aus Goethes Generation, die sich teilweise zum Göttinger Hainbund zusammengeschlossen haben, jährlich Einblick in ihre Werkstatt geben. Im Almanach auf das Jahr 1774 sind unter anderem Bürger, Claudius, Goethe, Herder, Hölty, Klopstock, die Grafen Stolberg und Voß mit Beiträgen vertreten. Der Almanach sowie andere Anthologien und literarische Magazine stellen für viele Köpfe der Gegenwartsliteratur ein wichtiges Sprungbrett dar, das ihre Bekanntheit gerade bei der jungen, weiblichen Leserschaft fördert.
Caroline ist aber nicht nur eine verständige, sie ist auch eine wilde Leserin. In die Zeit ihrer Jugend fällt ein radikaler Wandel im Leseverhalten. In auffälliger Weise steigt die Zahl insbesondere weiblicher Leser an, die zu belletristischen Neuerscheinungen greifen. Statt einen kleinen Kanon vertrauter und normativer Texte, allen voran die Bibel, ein Leben lang wiederholt zu lesen, bevorzugen sie zunehmend die Gegenwartsliteratur: neue, abwechslungsreiche Stoffe zur privaten Unterhaltung, wie sie der zeitgenössische Roman bietet. Statt ein Buch viele Male liest man nun viele Bücher einmal. Lesen, traditionell eine kontemplative Tätigkeit, eher dem Verdauen als dem Verschlingen gleichend, nimmt an Geschwindigkeit zu, parallel zur Explosion der Zahl von Neuerscheinungen. Viel zu lesen heißt auch, rasch zu lesen. Die Lektüre streift das altertümliche Korsett
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