Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
sich ein Urteil über die Gesellschaft zu bilden, indem man sie aus den Augenwinkeln heraus betrachtet. Jetzt, in den 1960er Jahren, mit der zweiten Welle der Emanzipation der Frauen und dem Vormarsch der Medien, gewinnt diese indirekte Art und Weise, sich der Welt zu bemächtigen, an Boden. Insbesondere Susan Sontag, die Intellektuelle aus New York, macht die Strategie, Außenseiterpositionen aufzuwerten und sie in den Rang innovativer Formen zu erheben, zu ihrem Markenzeichen. Was Marilyn Monroe für den Sex hat sie für den weiblichen Intellekt geleistet: ihn unübersehbar gemacht.
Und heute? Leserinnen, wohin man schaut: nicht nur auf Parkbänken und in U-Bahnen, auch und gerade in den Medien und im Internet, wo Frauen weltweit eine ungeheure Anzahl von Webseiten betreiben, auf denen sie ihre Lieblingsbücher vorstellen und Neuerscheinungen empfehlen. Als Fernsehthema ist »Lesen« so lange attraktiv, wie die entsprechende Sendung eine weibliche Handschrift trägt. Ist das nicht mehr der Fall, zappen die Zuschauer weg. Unter dem Namen Fanfiction findet in jüngster Zeit eine neue Form literarischer Texte rasante Verbreitung, in denen Leser ihre Lieblingsbücher fortschreiben. Die überwältigende Mehrheit der Verfasser ist weiblich. Die Heldin des weltweit millionenfach verkauften Bestsellers Shades of Grey ist natürlich eine passionierte Leserin. Gerade dort, wo wir uns immer mehr Freiheiten herausnehmen, spielt die lesende Frau nach wie vor die Rolle der Grenzgängerin. Lesen, bis zum 18. Jahrhundert eine männliche, mit Tradition, Gelehrsamkeit und Religion verbundene Lebensform, ist restlos weiblich geworden.
TEIL 1
Die Leselust beginnt Das 18. Jahrhundert
Johann Caspar Füssli d. Ä., »Klopstock, als gefeierter Jung-Dichter,
während seines Aufenthaltes in Zürich 1750/1751«, 1750,
© Heiner Heine/akg-images
In deutscher Sprache beginnt die Epoche der Leselust im Sommer des Jahres 1750. Es ist der hohe Mittag des Jahrhunderts der Aufklärung. In der Hauptrolle sehen wir Friedrich Gottlieb Klopstock, einen damals sechsundzwanzigjährigen jungen Mann, der zwei Jahre zuvor sein Studium abgebrochen hat, um sich ganz der Dichtung zu verschreiben. Erst einmal hat er eine Stelle als Hauslehrer angetreten – zwecks Gelderwerb, aber auch weil er dadurch seiner Cousine Marie nahe sein kann, in die er sich unsterblich verliebt wähnt und die als »Fanny«, »Daphne« oder »Laura« durch seine Oden geistert. Womit wir bei den schönsten Nebenrollen dieser deutschen Premiere in Sachen Leselust wären: lauter hoffnungsvolle Mädchen und junge Frauen.
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Magdeburg und Zürich, 1750
Die Erfindung der Dichterlesung
Friedrich Gottlieb Klopstock war mit seinem Nachnamen geschlagen. Seine Mitschüler im Internat Schulpforta fühlten sich bei »Klopstock« unwillkürlich an das Züchtigungsmittel erinnert, das mit unschöner Regelmäßigkeit auf sie niedersauste, und zahlten ihm das mit Hänseln heim. Vielleicht war es auch diese Demütigung, die schon den Schüler davon träumen ließ, der größte Dichter deutscher Sprache zu werden, dessen Name landauf, landab in aller Munde sein sollte. Noch der alte Goethe vergisst in seiner ein Menschenalter später entstandenen Autobiographie nicht zu erwähnen, wie sehr man sich darüber wunderte, wie ein »so vortrefflicher Mann so wunderlich heißen könne«. Doch ließ die wundervolle Poesie, die dem Kopf dieses Mannes entsprang, die wunderliche Bedeutung seines Namens in der Tat in Vergessenheit geraten. »Klopstock« wurde zum Synonym für eine neue Verbindung von Lesen und Leben, für ein Verständnis des Lebens nach dem Vorbild der Literatur. Im 1774 erschienenen Roman Die Leiden des jungen Werthers bedarf es dann nur noch des Aussprechens dieses Namens, damit die junge Frau und der junge Mann, erhitzt durch den Tanz und während draußen ein nächtliches Gewitter vorüberzieht, einander ihre Herzen offenbaren. Und es ist kein Zufall, dass es die jungen Frauen sind, über deren Lippen, einem Seufzer gleich, das Codewort kommt: »Klopstock!«
Der so hieß, war ein poète à femmes , kein Casanova zwar, aber ein Mann, der die Frauen liebte und durch seine Dichtung in sich verliebt zu machen verstand. Gemeinsame Klopstock-Lektüre, bei schönem Wetter auch im Freien, war in den Jahrzehnten zwischen 1750 und 1790 das Mittel der Wahl zur Anbahnung einer Liebesbeziehung. Klopstock war der perfekte Kuppler; seine Lektüre hat zahlreiche Liebes- und Ehebünde gestiftet. Nur
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