Freakshow
Tränenblindheit aus. Ich taumelte, bekam die Handtasche voll auf die Zwölf geklatscht, verlor endgültig das Gleichgewicht und schlug der Länge nach aufs Pflaster. Jemand mit spitzen Zähnen grub sie mir in den Oberschenkel, und etwas mit spitzen Schuhen kickte mir damit in die Rippen. Und dann musste ich noch mitanhören, wie Struppi unter Heulen und Kläffen gewaltsam weggezerrt wurde.
Ächzend kroch ich in die vermutete Richtung meines Wagens, tastete am Blech herum, bis die Beifahrertür aufging, mich ein Paar große Hände packten und auf den Rücken drehten. Ein Verschluss knackte, und jemand spülte mir Augen und Nase aus, so gut es eben ging, mit Bier. Und dann auch den Hals. Ich hustete und spuckte schäumend, und anschließend wiederholten wir die Prozedur, bis ich wieder in der Lage war, zumindest Schemen wahrzunehmen. Und natürlich jaulte jetzt ein Martinshorn heran, also zog ich mich hinters Steuer, startete und eierte mehr nach Gehör als nach Sicht davon.
Alfred sah mich schweigend und, ich denke mal, recht erstaunt von der Seite an.
»Amtsanmaßung«, erklärte ich ihm schniefend. »Eine Droge.«
Scuzzi beobachtete mit allen Anzeichen stiller Verzückung, wie ich den Kopf ins volle Waschbecken tauchte, mir hustend Wasser über die Schleimhäute sog und jetzt schon bereute, ihm die Geschichte erzählt zu haben.
»Warum zahlst du nicht einfach die Rechnung?«, fragte er, als ich kurz hochkam, um Luft zu schnappen. »Tja«, antwortete ich und tauchte ein letztes Mal unter. »In ein paar Tagen müsste ich wieder frisch genug sein, dir das Geld zu leihen.«
»In ein paar Tagen ist es dafür zu spät«, knurrte ich, frottierte mir den Schädel und stiefelte raus in die verfluchte Hitze, rüber zu Alfreds Logopädin.
Unterwegs passierte ich Gärtner Jacob, der mir kurz zunickte, sich aber ansonsten nicht weiter in einem Über-den-Zaun-Gespräch mit Zwangsneurotikerin Albertine stören ließ. Albertine, die heute in einem weißen Sommerkleid aussah wie ein aufs Land gespülter Eisberg mit Schnurrbart, antwortete irgendetwas, das Jacob in enorme Heiterkeit versetzte. Dabei blickte sie ihn aber die ganze Zeit nicht an, was den Gedankenaustausch der beiden wie etwas Konspiratives wirken ließ, etwas Heimliches, wie ein illegitimer Flirt etwa. Manche haben’s wirklich raus mit den Frauen, dachte ich im Vorbeigehen, und Jacob lachte erneut.
»Sie sehen furchtbar aus«, sagte Alfreds Logopädin vorwurfsvoll. Sie hieß Angelika Butzke, wirkte heute ganz besonders rund und adrett und war immer noch ohne festen Freund, wie mir ihre Haltung verriet. Ich schniefte, tupfte mir die Augen und fragte mich, wann wohl das letzte Mal jemand >Gut siehst du aus< zu mir gesagt hatte. Ich konnte mich nicht entsinnen. »Man hat Alfred also erneut gefesselt?«, fragte sie. Anders als das hellblaue Pflegepersonal trug sie einen weißen Kittel, eng in der Taille, und nicht nur da, und ich dachte, wie wundervoll es sein müsste, jetzt mit ihr und all ihrer Weichheit in einem Berg von Kissen zu versinken und vor dem morgigen Tag nicht wieder aufzutauchen. Mühsam riss ich mich zusammen. »Ja«, antwortete ich, »und wieder nackt. Und wieder ohne erkennbare Anzeichen von Widerstand seinerseits. Ich möchte wissen, warum. Warum lässt Alfred sich ausziehen, warum lässt er sich fesseln, auf einen Ameisenhaufen schubsen oder in einem rattenverseuchten Keller auf dem dreckigen Boden anpflocken? Was, frage ich mich, hat er davon? Und was, will ich wissen, hat ein barfüßiges Kind bei alledem verloren?« Schnäuzen folgte. Gott, mir lief die Nase.
»Ein Kind?«, fragte Frau Butzke und sah konsterniert von ihrem Notizblock auf.
Also erzählte ich ihr kurz von den Fußspuren im feuchten Lehm, und während ich das tat, kam ich zu dem Entschluss, Menden den Keller zu zeigen, und zwar so bald wie möglich.
»Fragen Sie Alfred nach dem Keller, fragen Sie ihn nach dem Kind im Keller, und fragen Sie ihn nach dem Tisch«, sagte ich, schnaubte ein weiteres Kleenex voll und erhob mich.
»Das wird nicht einfach«, sagte sie. »Nichts ist jemals einfach«, gab ich zurück.
»Kann das sein, dass Sie sich noch nicht nach Duisburg umgemeldet haben?«, ranzte Menden mich an, kaum dass er abgehoben hatte. »Ich habe hier eine Anfrage von den Duisburger Kollegen nach Ihrem Verbleib. Es geht um einen Anfangsverdacht von …« Menden brach ab, offenbar, um ein Papier zurate zu ziehen, und ich zog derweil die Nase hoch und spie Rotz
Weitere Kostenlose Bücher