Freddy - Fremde Orte - Blick
mit euch beiden reden, denn es geht euch gleichermaßen an, aber ich hatte nicht gedacht, dass ich euch hier gemeinsam …“
Isabel hatte Melanie einmal verraten, dass sie so gut wie nie mit ihrer Zimmergenossin sprach.
„Ich habe euch ein Geständnis zu machen. Ich könnte es für mich behalten, aber ich denke, es ist nicht fair, euch gegenüber. Es ist ein Geheimnis.“
Ein Geheimnis! Melanie musste lachen, aber es hatte nichts mit Humor zu tun. Nur zu! Zurzeit hatten Geheimnisse Hochkonjunktur. Jeder hatte hier eines, und viele Leute wollten das ihre plötzlich loswerden. Ihr fiel Werner Hotten ein, und auch ihre Zimmergenossin Dorothea Kayser, die sie die ganze Zeit über kaum bemerkt hatte, weil sie gewissermaßen „psychisch unsichtbar“ war. Dorothea hatte es ihr erst vor kurzem anvertraut, als sie in dem unterirdischen Labyrinth des Klosters aufeinander gestoßen waren, in das sie sich freiwillig hatten entführen lassen. Melanie hatte sich vorgenommen, mehr darüber herauszufinden, mit Dorothea ausführlicher darüber zu reden, doch in dem Drunter und Drüber der letzten Tage hatte sie keine Gelegenheit dazu gefunden.
Nun also auch Isabel. Um was es wohl ging? Ob sie ihnen eröffnen würde, dass sie ihr Bett durch einen Sarg austauschen wollte? Nein, Moment, sie hatte ja behauptet, es ginge sie beide an! Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass sie im Geheimen Gesangsstunden genommen hatte und gedachte, mit ihnen zusammen eine finstere Rock-Combo zu gründen. Melanie schüttelte unwillig den Kopf über sich selbst. Sie musste ernst werden, sonst erlebte sie noch ihr blaues Wunder, wenn Isabel tatsächlich verhängnisvolle Neuigkeiten für sie hatte. Wusste sie womöglich etwas über den Film, von dem Werner gesprochen hatte? Kannte sie den Dieb, oder hatte sie das Zelluloid gar selbst gestohlen? Sie hielt alles, aber auch wirklich alles für möglich.
„Du siehst verwirrt aus“, bemerkte Madoka, und Melanie registrierte, dass die Worte ihr selbst galten, nicht Isabel. Noch einmal schüttelte sie den Kopf.
„Sorry, nur eine Überdosis an Geheimnissen in letzter Zeit. Kümmert euch nicht um mich.“
Isabel blickte hilflos aus der Wäsche. Es fiel ihr sichtlich schwer, einen Ansatz zu finden. „Ich weiß nicht, ob ihr euch noch an meinen letzten Geburtstag erinnern könnt.“
Oh doch, das konnte Melanie, trotz all der Dinge, die sich seither ereignet hatten. Es war ein totales Chaos gewesen. Isabel hatte einen Tee gebraut, den Jaqueline als Liebestrank enttarnt hatte, und ihn den männlichen Studenten zum Trinken gegeben. Doch er schien nicht zu wirken, und irgendwann zog sich Isabel zurück, niemand wusste, was eigentlich vorgefallen war, und alle versuchten, diesen verrückten Nachmittag zu vergessen.
„In Wirklichkeit … hatte ich einen Liebestrank für mich selbst zubereitet“, erklärte Isabel stockend. „Ich wollte nicht erreichen, dass sich jemand in mich verliebt. Ich wollte das Gegenteil. Ich wollte mich in jemanden verlieben – unsterblich – vollkommen – ohne jede Chance, mich jemals wieder davon zu erholen oder jemals wieder einen anderen zu lieben.“
Melanie brauchte eine Weile, um den Gedankengang nachzuvollziehen. Eigentlich war er typisch für diese Frau. Isabel war nicht egoistisch. Sie war … bereit zu leiden, ja, gewillt, den Schmerz der Welt auf sich zu nehmen. Das war ihre Ästhetik, ihr Verständnis von Schönheit und Perfektion. Sich auf ewig an jemanden zu binden, anstatt jemanden an sich zu binden – das passte genau in ihr masochistisches Denkmuster. Melanie konnte nicht viel mit dem Gedanken anfangen und wusste, dass so etwas für sie nicht in Frage gekommen wäre.
Aber schön. Isabel hatte es getan. Wo war das Problem? Warum erzählte sie ihnen das jetzt?
Und warum behauptete sie, es ginge Madoka und sie etwas an? Wie es in ihrem Herzen aussah, war doch wohl Isabels Sache. Wen sie liebte, und warum sie ihn liebte, hatte niemanden zu interessieren außer Isabel selbst.
Es sei denn …
Melanie blieb von einem Moment zum anderen die Luft weg. Ihr Atem war einfach verschwunden, ihr Kopf begann zu glühen, und wenn sie nach Luft schnappte, bekam sie nur kleine, nutzlose Happen davon. Sie hatte sich wohl doch nicht auf alles eingestellt, nur auf fast alles .
Und in dieser verrückten Schule war das nun einmal zu wenig.
Madoka war aufgesprungen, stand gleich neben Melanie, schwankte, bis sie mit den kleinen Schultern gegen die Rothaarige
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