Freddy - Fremde Orte - Blick
stieß.
„A-Artur?“, kam ein Krächzen aus der Kehle der Japanerin.
Isabel nickte feierlich.
Melanie umfasste Madokas Körper, damit sie beide nicht umkippten.
4
Sie saßen in einem Flugzeug der japanischen Fluglinie All Nippon Airways, das sie von Frankfurt im Direktflug nach Tôkyô bringen würde, genauer gesagt zum internationalen Flughafen, der nach dem Vorort benannt war, neben dem er lag: Narita. Melanie hatte einen Fensterplatz bekommen, und Madoka saß neben ihr. Der Sitz am Gang war leer geblieben – der Flieger war nur zu etwa sechzig Prozent ausgelastet.
Sie hatten wenig miteinander gesprochen, seit sie in der Luft waren, doch diesmal war es kein feindliches Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, sondern eine gemeinsame Sprachlosigkeit. Seit Isabel ihnen gestanden hatte, sich ausgerechnet für Artur entschieden zu haben, fiel es ihnen noch schwerer, Falkengrund zu verlassen und einen Punkt auf der anderen Seite des Erdballs anzustreben. Warum das Gothic-Mädchen sich für die Liebe ihres Lebens ausgerechnet einen Studenten aussuchte, der zu diesem Zeitpunkt erst wenige Tage auf dem Schloss war und mit dem sie noch kein vernünftiges Gespräch geführt hatte, war beiden schleierhaft geblieben. Sicher passte die Schicksalshaftigkeit einer solchen Wahl irgendwie in Isabels Weltbild. Für jeden Menschen gab es Dinge, die er tun musste, um sich am Leben zu fühlen. Manche brauchten Geselligkeit dazu, andere das Alleinsein, manche betrieben riskante Extremsportarten, andere betätigten sich künstlerisch. Für Leute wie Isabel war es wohl essenziell, das Schicksal herauszufordern, dem Leben ungewöhnliche Wendungen zu entlocken.
Hatte Isabel eine Chance bei Artur?
Die Frage war vertrackt. Melanie und Madoka hatten zwei, drei Versuche gemacht, sie anzudiskutieren, aber sie kamen nicht weit. Und dass sie nicht weit kamen, verriet ihnen eines: Sie kannten Artur nicht wirklich. Melanie hatte anfangs Spaß daran gefunden, sich des „Neuen“ anzunehmen, ihm Mut zuzusprechen und in der Not behilflich zu sein. Sie hatte ihn unter ihre Fittiche genommen. Madoka ihrerseits hatte mit ihm einige Gespräche über die Schutzgeister geführt, die ihnen beiden einst zur Seite gestanden hatten. Sehr weit unter die Oberfläche waren sie beide damit nicht vorgestoßen. Artur war zurückhaltend und redete nicht viel über sich. Damit passte er besser zu Madoka als zu Melanie.
Und möglicherweise noch besser zu Isabel.
Warum waren plötzlich drei Frauen wild auf Artur Leik? Er hatte ein durchschnittliches Gesicht, männlich und markant, aber nichts, was man nicht anderswo ebenfalls bekommen konnte. Er war eine Spur älter als die meisten von ihnen, nicht übermäßig sportlich. Ein fesselnder Redner war er bestimmt nicht, und mit großartigen Leistungen konnte er ebenfalls nicht aufwarten: Weder hatte er einen Drachen erstochen, noch jemals ein Pupskissen auf den Stuhl eines Dozenten gelegt.
Das Schicksal war nun einmal so. Irgendwie gemein. Es wollte einfach nicht zulassen, dass sich unter sieben Frauen und sechs Männern sechs glückliche Pärchen bildeten und die Übriggebliebene ins Kloster ging und Rosenkränze betete.
„Wollen wir Wetten abschließen, wer sich als nächstes in Artur verknallt?“, fragte Melanie, als ein unverschämt hübscher, aber viel zu knabenhafter Steward ihr stirnrunzelnd den dritten Whisky brachte. „Ich tippe auf Margarete.“
„Zehn Euro auf Georg“, antwortete Madoka.
Melanie lachte prustend und lautstark los und verschüttete die Hälfte ihres Drinks.
„Du kannst witzig sein“, kicherte sie.
„Galgenhumor“, erwiderte Madoka trocken. Melanie bekam einen Lachkrampf, der sich erst wieder löste, als der ältere Japaner, der vor ihr saß, sich umdrehte und zwischen den Sitzen hindurch zu ihr nach hinten sah. Er wirkte nicht so sehr verärgert als vielmehr fasziniert von ihr.
Madoka entschuldigte sich auf Japanisch bei ihm für die Belästigung (jedenfalls interpretierte Melanie ihre Worte so), doch der Japaner verlor das Interesse an ihr nicht mehr. Er bestellte einen weiteren Drink für die hübsche junge Dame mit den feuerroten Haaren, prostete ihr ständig zu, und als sie nach einem zwölfstündigen Flug völlig übernächtigt in der Nähe des Molochs Tôkyô landeten, nahm er Madokas Übersetzung in Anspruch, um sie zu einem sündhaft teuren Walfleisch-Dinner in seine Villa einzuladen.
Melanie lehnte dankend ab. Sie nahm seine Visitenkarte entgegen und warf sie
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